Die Taube

Es war einmal eine Taube, die pickte in der Fußgängerzone einer kleinen Stadt nach Brotkrumen. Gelegentlich flog sie auf, wenn Passanten ihr zu nahe kamen und kehrte dann gleich wieder zu ihrem Mahl zurück. Die Sonne präsentierte sich als graue Scheibe am Himmel, verdeckt durch dünne Wolken, die sie wie einen Brautschleier verdeckten. In einem Schaufenster standen mit Wintermänteln bekleidete Mannequins. Ein Pärchen blieb vor ihnen stehen und ihm gefiel ein rotschwarz karierter Baumwollschal, der um den glatten weißen Hals gewickelt war. Ihr nicht, aber sie hielt ihre Meinung zurück. Ein normaler Tag mit betriebigen Menschen. Und so ereignete sich etwas, dass nur einer älteren Dame auffiel, welche sich auf einer Bank ausruhte und das fantastische Ereignis, dass sich ihr dort darbot, als Sehfehler abtat. Aus den Wolken stieg nämlich langsam eine murmelgroße Lichtkugel geradewegs auf die Taube hinab, die leise gurrte und pickte und eine andere Taube von ihrem Futter vertrieb. Die Lichtkugel war transparent und pulsierte leicht in einem gleichmäßigen, ruhigen Rhythmus, während sie zwischen der Häuserschlucht Richtung Erde schwebte. Erst als sie sich der Taube näherte, hob diese den Kopf und schaute neugierig auf das seltsame Objekt. Die Lichtkugel strahlte eine angenehme Wärme aus und wirkte in keinster Weise bedrohlich, weswegen die Taube nicht wegflog, als die Kugel auf sie niedersank. Genau in dem Moment, in dem die Lichtkugel den Kopf der Taube berührte, geschah es. Genau in diesem Moment, gelangte die Taube zu einem menschlichen Bewusstsein.

Sie erinnerte sich an nichts, nicht ihren Namen, ihre Eltern, ihre erste und letzte Liebe, gar nichts. Sie wusste nur, dass sie einst ein Mensch gewesen war, bevor dieser Körper der ihrige wurde. Um sie herum pickten die anderen Tauben weiter. Sie schienen von diesem besonderen Ereignis keine Notiz genommen zu haben. In einem Schaufensterspiegel besah die Taube ihren neuen Körper. Die grauen Flügel, welche zu den Enden hin einen Hauch Schwarz annahmen, den zum Rumpf ins violette wechselnde Grünschimmer ihres Halsgefieders, die beiden rosa Füße deren vier Zehen wie knorrige Äste davonstanden sowie der geschwungene, schwarze Schnabel, der zum Ende hin eine weiße Färbung annahm. Die Begriffe für all jene Dinge flogen ihr zu, sonstige Erinnerungen leider nicht. Sie flog zu den anderen Tauben und versuchte mit diesen zu kommunizieren, was ihr misslang. Sie flog zu den Menschen hin und versuchte dasselbe, doch alles was sie erreichte war, dass diese sie mit angewiderten Blicken straften und mit Fußtritten zu vertreiben suchten. Deshalb gab sie dieses Vorhaben bald auf und flog auf das Geäst einer Antenne, von der sie über die graubesonnten Dächer schauen konnte. Wer war sie bloß? Warum befand sie sich in diesem Körper? Viele, viele, viele Fragen, auf die sie keine Antworten fand. Sie gab das Nachdenken auf und versuchte erneut Kontakt mit den Tauben und den Menschen herzustellen. Leider mit dem selben leidigen Ergebnis. Überdies wäre sie dabei noch fast einem unangeleinten Wischmopphund zum Opfer gefallen. So kam es, dass Einsamkeit das Herz der Taube befiel.

Wochenlang streifte sie umher, auf der Suche nach etwas, was ihr bekannt vorkam und einen Hinweis auf ihr altes Leben liefern konnte. Währenddessen probierte sie immer wieder mit Tieren aller Art eine Verbindung aufzunehmen, doch nichts und niemand verstand sie. Sie verließ die Stadt und flog in den Süden, dem Winter davon, hinaus aufs Land, über vom Regen verweinte Wiesen, mächtige Wälder, die Ruinen von einsam gelegenen Häusern, Kühen, Schafen, Ziegen, Rehen, Hirsche, Füchsen, Dachsen; wurde dabei zweimal von Habichten als Beute auserkoren und überlebte diese Begegnungen nur um Haaresbreite, trank aus stillen und wilden Flüssen, aus Tümpeln und klaren Seen, hungerte und betrieb Völlerei, flog mal hoch und mal tief – so wie es ihr gefiel, war mal froh und trug mal Steine im Herzen, besuchte Städte und wurde eins mit deren Tumulten, schätzte ihre eigene Freiheit und verdammte sie im nächsten Augenblick, sah Menschen aller Art, blieb ihnen fern, kam ihnen nah, wollte nichts von ihnen wissen und jedes Wort eines Gespräches hören, bis sie schließlich nach all ihren Abenteuern wieder in das kleine Städtchen zurückkehrte, in dem sie zu einem Bewusstsein gelangt war. Sie flog an einen öffentlichen Platz, auf dem die anderen Tauben gerade umherhuschten und die Überbleibsel eines Vespers verzehrten. In der Mitte der aus massiven, rechteckigen Steinplatten bestehenden Fläche, stand eine große Reiterstatue. In deren Schatten saßen ein telefonierender Mann im Businesshemd, der wenn er nicht redete an einer Zigarette zog. An einer Stelle stiegen Wassersäulen in regelmäßigen Abständen aus dem Boden und einige Kinder in Badekleidung sprangen dazwischen glücklich kreischend umher. Die Taube wurde von den anderen Tauben streitlos in deren Mitte akzeptiert. Die Taube mit der Menschenseele schätzte nach der langen Zeit des Alleinseins diese Gesellschaft sehr. Auch wenn sie für dieses Leben wohl immer etwas Besonderes bleiben würde, beschloss sie, ihr Schicksal anzunehmen. Und so blieb sie bei jener Taubenschar, pickte wie die anderen nach Resten, entflog aber auch manchmal wenn ihr danach war, um feineres Futter einzunehmen, paarte sich und zog kleine Tauben auf.

Und wenn ihr irgendwann einmal durch die Stadt lauft und eine Taube euch neugierig ansieht, euch nahekommt und nicht von eurer Seite weichen möchte, ja dann könnte es sich um jene Taube handeln, von der diese Geschichte handelt.

12 Gedanken zu “Die Taube

      1. Weiße Taube, fliegt vor mir her,
        so, als ob sie eine Botin wär.
        Kündet sie etwa. von Liebe und Glück,
        bringt sie mir, geschwind. die Freude zurück?

        Weiße Taube, fliegt hoch zum Himmelszelt,
        sie ist ein Zeichen, einer anderen Welt.
        Oh Täubchen, wie sehr liebe ich dich,
        du bist eine Gesandte Gottes für mich!

        © Monika-Maria Ehliah Windtner

        Mit lieben Grüßen
        M.M.

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      2. Danke für deine Anerkennung…
        … das große Schöpfungsgeheimnis besteht darin,in allem das Göttliche zu erkennen …
        GLG M.M.

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  1. Hallo du,
    eine sehr schöne Geschichte! Der Anfang war etwas verwirrend, es ist nicht ganz klar, warum du dort und auch am Ende der Geschichte ein Pärchen erwähnst? Aber die Botschaft dahinter ist wirklich sehr schön 🙂
    Liebe Grüße, Alex

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