Er zottelt auf mich zu und neben mir ruft ein kleiner Junge: „Mama, da läuft der Nikolaus!“, woraufhin ich schmunzeln muss. Der Nikolaus ist ein Wrack und riecht säuerlich, nach Straße. Sein zerzauster Rauschebart ist um den Mund herum schmutzgelb, wohl des Nikotins wegen, denn er kaut viel Tabak. Er trägt eine graublaue, zerschlissene Regenjacke, die an den Oberarmen ganz abgewetzt ist, vermutlich vom vielen auf der Seite liegen. Santa Graus legt den Kopf schief und zuckt plötzlich, zuckt noch einmal heftiger, so dass aus der goldenen Bierdose, die er in seiner linken Hand hält, ein Schluck auf das Bahnhofsplaster schwappt. Dem kleinen Jungen macht das Angst und er klammert sich fest an die Hüfte seiner Mutter, welche nichts sagt, nur den Blick streng geradeaus hält und ihr Tempo erhöht.
Der Nikolaus öffnet den Mund und spricht Worte, die nur ihm selbst und seinem Rausch bestimmt sind. Er ist einer der Obdachlosen vom Bahnhof, läuft dort schon seit Jahren umher, bettelt geduldig und drängt sich niemandem auf, bietet manchen Leuten seinen Kautabak an, in der Hoffnung sie in ein Gespräch verwickeln zu können. Ich sehe ihn wieder, als ich auf dem Heimweg bin. Mittlerweile sitzt er im Schneidersitz an der Glasfassade des Bahnhofsgebäudes und scheint eingeschlafen zu sein. Mit einem Kaffeebecher und einem geknickten Pappschild, bittet der Nikolaus um kleine Geschenke.
Er ist mir lieber als der Typ, welcher jeden Tag mit blauen Zetteln in der Innenstadt umherläuft, auf denen irgendein osteuropäisches Mädchen mitleidig dreinblickt, welches er instrumentalisiert, um das Mitleid von Reisenden zu erpressen. Er ist mir lieber als die drei Türken vom Döner an der Straßenbahnlinie, welche immer an derselben Stelle stehen und die Schalen von Sonnenblumenkernen auf den Boden rotzen. Er ist mir lieber als die braunen Idioten vom Stadtpark, die jeden Ausländer anpöbeln und für ihre Probleme und Nutzlosigkeit verantwortlich machen. Er ist mir lieber als die meisten Menschen, denen ich so begegne, vielleicht aufgrund seiner Armut, seines Elends, weil er mir vor Augen führt, wie gut ich es habe und manchmal bedauere ich es, dass ich ihn überhaupt brauche, um mich dessen zu erinnern.
🎅😢
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Sprichst mir aus der Seele.
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ein schöner text. was mir dadurch klar geworden ist … wenn du nichts mehr hast oder nur noch wenig, so gibt es doch immer etwas, das bleibt … nämlich das bedürfnis nach menschlicher nähe, nach einem austausch, einer verbindung. das ist etwas grundlegend menschliches. ich wünsche dir einen guten und schönen tag und leg doch von mir zwei euro in seine schale. und sag ihm ein paar worte, wenn es dir möglich ist. ich danke dir. auch dafür, dass du einen blick dafür hast.
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Werde ich machen und für ein paar Worte bleibt immer Zeit 🙂
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danke schön. ❤
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🙂
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🙂
schönen tag dir, lieber zerdenker.
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Danke, danke, den wünsche ich dir ebenfalls 🙂
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danke schön. 🙂
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Schön geschrieben. Bringt mich zum Nachdenken.
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Wunderbar, Mission erfüllt.
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Ja, gut, dass du einen Blick „dafür“ hast. Du erinnerst mich in deinem Schreiben an einen Schriftsteller, den ich früher viel las: Manfred Hausmann. Ich glaube, den kennt heute niemand mehr, doch wer weiß…
Gruß von Sonja
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Da muss ich mal in meinem Lieblingsantiquariat herumbuddeln, vielleicht finde ich dort etwas von ihm.
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