Vatertag

Ich nahm ihn mit, zeigte ihm meine Frau und meine Kinder, doch nichts, keine Regung. Sein Blick ging an allem Lebendigem vorbei, was meine Tochter recht unheimlich fand und sie zum Weinen brachte. Nachdem ich sie beruhigt hatte, nahm ich Vater bei der Hand, verließ mit ihm das Haus und setzte ihn wieder ins Auto. Während der ganzen Fahrt sprach er nicht ein Wort, sondern sah nur aus dem Fenster, so als es dort in der Ferne etwas gäbe, das ihn ruft.

Als ich ausstieg knirschten die Kiesel unter meinen Schuhen, während der Wind sanft die Blätter über mir erzittern ließ. Vorsichtig half ich Vater aus dem Auto. Durch einen Seiteneingang, der aus einem vergitterten Metalltor bestand, über das mit der Zeit Efeu gewachsen war, betraten wir den Friedhof. „Mutter, ich vermisse dich! Was soll ich bloß tun mit ihm? Hilf mir bitte!“ Schön war ihr Grab damals. Vor langer langer Zeit hatte irgendjemand mal eine kleine Weinrebe darauf eingepflanzt und an einem Stock befestigt. Dieser fiel irgendwann der Witterung zum Opfer, doch bis dahin hatte die tapfere kleine Pflanze sich bereits um den Grabstein gewunden und erstrahlte dort trotzig in einem herrlich erfrischenden Grün. An diesem Ort des Todes und der Trauer war sie ein Symbol des Lebens, der Heiterkeit.

Nichts, keine Regung. Seine braunen Augen starrten einfach nur durch das Grab hindurch, so als ob es zwischen ihm und dieser Frau niemals eine Verbindung gegeben hatte. Daraufhin nahm ich ihn bei der Hand und verließ den Friedhof. Ich konnte diese Gleichgültigkeit nicht mehr ertragen.

Weiter ging es durch die Stadt, die an diesem wolkenverhangenen Samstag vor Menschen nur so wimmelte. Seit Wochen hatte es mal wieder ein bisschen geregnet, was anscheinend alle nach draußen gelockt hatte. Vater ließ sich führen wie ein gut dressierter Hund, Schritt für Schritt, egal wohin. „Hier, das Haus da. Da hast doch früher gearbeitet, oder? Und schau mal da drüben die Metzgerei! Da hast du mir morgens immer die Lyoner und die Bretzeln gekauft, erinnerst du dich?“ Anscheinend nicht. Wir fuhren wie damals in meiner Kindheit mit der Straßenbahn Richtung Norden bis zur Endhaltestelle und liefen dort eine Runde um den Stadtsee. Ich fütterte die Enten, in der Hoffnung etwas ihn ihm zu erwecken, doch es regte sich kein Funken Leben in ihm. Er war nur noch ein Geist, eine Hülle, nicht mehr da.

„Wo bist du hin Vater? Was siehst du? Was denkst du? Sag es mir!“, schrie ich ihn an, rüttelte an ihm. Sein Mund blieb verschlossen, keine Reaktion.

Als wir wieder vor seiner Haustür standen, knallte es plötzlich laut. Zwei Autos waren heftigst ineinander gefahren. Aus der Motorhaube des Einen quoll dichter weißer Qualm hervor, doch den beiden Fahrern war zum Glück nichts geschehen. Als ich meinen Blick wieder abwenden konnte, war Vater verschwunden. Verwundert blickte ich mich um. Eigenartigerweise stand die Haustür offen, also ging ich hinein und tatsächlich, da war er. In Embryonalstellung zusammengekauert kauerte er in einer Ecke und zitterte am ganzen Leib. Dieser Anblick verschlug mir die Sprache.

Vorsichtig fasste ich ihn an und erklärte ihm mit ruhiger Stimme, dass alles  in Ordnung sei und ihm nichts geschehen konnte. Nach zwanzig langen Minuten schaffte ich es schließlich, ihn wieder auf die Beine zu stellen. Dieses Mal waren seine Augen voller Leben und fokussierten die offene Tür und den Unfall dahinter. Ich nahm ihn bei der Hand und zog leicht daran, da ich ihn wieder nach oben bringen wollte, doch er ließ dies nicht zu und wehrte sich, blieb wie ein trotziges Kind einfach stehen. Plötzlich drehte er seinen Kopf und sah mir direkt in die Augen. Dann schrie er plötzlich: „Ich geh da nicht mehr raus, ne, dass können Sie vergessen. Sie können mich erschießen, oder hängen, oder sonstwas wenn sie wollen, das ist mir alles scheißegal. Egal, alles egal. Ob ich jetzt verrecke oder später, alles egal. Alle sind tot, Sie auch, Sie wissen es nur noch nicht!“ Sprachlos und verwirrt stand ich da, worauf er sich wieder in seiner Ecke verkroch und damit begann, unverständliches Zeug vor sich zu herzumurmeln.

Dann begriff ich es. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Wenn man Dinge erlebt hat, für die es keine Worte gibt, sondern nur Tränen, dann zerbricht man irgendwann. Wer Glück hat findet rechtzeitig jemanden, der die Seelenscherben wieder auflesen kann und einen ins Leben zurückholt, doch so viel Glück hatte mein Vater damals nicht. Fünf Jahre Gefangenenlager ließen ihn zu einem Wrack verkümmern, einem Haufen Fleisch, dem die Seele entflohen war. Nur eines konnte diesen Körper kurzzeitig wieder zum Leben erwecken und das war der Tod selbst bzw. die Geräusche des Todes. Ich setzte mich zu ihm, nahm ihn in den Arm und sah zu, wie seine Augen allmählich wieder ergrauten und von Leere erfüllt wurden. Schließlich nahm ich ihn bei der Hand, brachte ihn nach oben und setzte ihn auf sein Sofa. Kein Danke, kein Tschüss, nichts, doch dieses mal war ich ihm nicht böse.

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