Der Rabe und der Fuchs

In Anlehnung an La Fontaine, Lessing und Thurber

Der Rabe und der Fuchs

Es saß einmal ein Rabe auf einem Ast und machte sich daran eine Scheibe Käse zu verspeisen, die er von dem Vesperbrot eines unachtsamen Gipserlehrlings stibitzt hatte. Da kam ein Fuchs herbeigelaufen, der den Raben und den Käse gerochen hatte. Er setzte sich vor dem Ast auf den Boden. Der Rabe rührte keinen Muskel, da er wusste, dass Füchse nicht so hoch springen konnten und er hier oben vor dem Räuber sicher war.
„Guten Tag werter Rabe, Sie kühner Bezwinger der Lüfte, tollkühner Artist der starken Winde“, sprach der Fuchs
„Scher dich fort du rotpelziges Übel!“, rief der Rabe und blickte abwertend auf den Fuchs herab.
„Du bekommst weder ein Stückchen von mir, noch meinem Käse.“
Der Fuchs blieb sitzen.
„Ach, Herr Rabe. Ich komme nicht um meinen Hunger an Ihnen oder Ihrem Käse zu stillen. Nein, ich habe ein viel wichtigeres Anliegen, das es zu besprechen gilt. Sie, der Sie weit bis über die Landesgrenzen für Ihre Weisheit und Raffinesse bekannt sind, bitte ich, mir ein winzig weniges Bisschen Ihrer wertvollen Zeit zu schenken. Ein paar Minuten, welche Sie nicht bereuen werden. Fuchsehrenwort!“
Der Rabe, welchem die Listen der Füchse aus zahlreichen Rabengeschichten bekannt waren, wusste, dass er sich von den Schmeicheleien seines Gegenübers nicht einlullen lassen durfte. Jedoch hatte der Fuchs seine Neugierde entflammt. Was für ein Anliegen hatte er? Zudem war der Rabe gelangweilt, weswegen er sich schließlich auf das Gespräch einließ.
„Du scheint wohl schlechte Ohren zu haben. Aber gut, lass hören. Ich habe ohnehin gerade nichts Besseres zu tun und will mir deine Worte anhören. Wähle sie gut!“, sagte der Rabe. Das freute den Fuchs und er verneigte sich höflich vor dem Raben.
„Ich bin zu dir gekommen, um dir mitzuteilen, dass wir Füchse dazu bereit sind, unsere Jahrtausende währende Feindschaft zu beenden. Ein gewaltiges Übel ist über unsere beiden Völker hereingebrochen, dem wir schrecklich hilflos gegenüberstehen.“
„Fahr fort. Von welchem Übel sprichst du?“
„Stolzer Rabe, ich rede von den Menschen. Ein größeres Unheil als sie hat es noch nie gegeben und wird es auch wohl nie geben. Sie verseuchen rücksichtslos das Wasser, die Erde, ja auch die Luft, welche du mit deinen starken Schwingen beehrst.
„Wir Tiere“, er fasste sich mit beiden Pfoten an sein Herz, “ sind dem zerstörerischen Treiben der Menschen nahezu machtlos ausgeliefert. Ein Umdenken ist daher nötig, wenn wir überleben wollen. Die Raben und die Füchse, Todfeinde seit Äonen, müssen in dieser Zeit der Not zusammenhalten! Dies ist mein Anliegen. Ein Bündnis.“
Der Fuchs machte eine Pause und blickte den Raben erwartungsvoll an.
„Was hälst du davon, du weisester aller Gefiederten?“
Der Rabe hob einen Flügel und sprach:
„Lass mich nachdenken.“
Nun war es ein Weilchen still und man konnte die Grillen hören, welche im Gras ihre Liedlein zirpten. Der Rabe dachte angestrengt über das Gehörte nach. War es nur eine weitere List, oder meinte es der Fuchs ernst? Ihm schwirrte der Kopf. Abgesehen von den Schmeicheleien, welche dem Raben mehr gefielen als ihm recht war, hatte der Fuchs wahre Worte gesprochen. Die Menschen stellten für ihn und seinen Schwarm, von dem er sich entfernt hatte, weil es ihn nach etwas Einsamkeit gelüstet hatte, mittlerweile die größte Bedrohung dar. Schon viele seiner Brüder und Schwestern sowie deren Nachkommen waren durch die Menschen umgekommen. Manche unvorsichtige Jungtiere waren mit den glänzenden, dröhnenden Metallkäfern zusammengestoßen, welche von den Menschen gesteuert wurden. Andere Raben hatte man erschossen oder waren an den Folgen von vergiftetem Futter gestorben.

Schließlich war der Rabe zu einem Entschluss gekommen. Er plusterte sich auf, nahm tief Luft und erhob dann das Wort:
„Fuchs, ich habe lange und gründlich über deine Worte nachgedacht. Auch wenn mir dabei Dornenranken das Herz umschlingen, so muss ich dir zustimmen. Die Menschen sind unser größtes, gemeinsames Übel, eine unerträgliche Plage. Ich nehme daher dein Angebot an.“
Er hob beide Flügel zum Himmel empor, schloss die Augen und verkündete laut:
„Es sei besiegelt! Füchse und Raben in einem gemeinsamen Kampf…“
Während der Rabe dies sagte, hob der Fuchs seine rechte Pfote leicht an. Das Signal.
Blitzschnell sprang ein Marder, der Komplize des Fuchses, hinter dem Raben hervor und überwältigte ihn. Er war, während der Fuchs den Raben abgelenkt hatte, vorsichtig auf den Baum geklettert und im Verborgenen auf das Signal des Fuchses gewartet, um zuschlagen zu können. In einem wilden Knäuel aus Fell und Federn fielen die beiden auf den Boden. Sogleich stürzte sich der Fuchs auf die beiden und biss erst dem Raben, dann dem Marder das Genick durch.
„Gut gemacht, du einfältiger Narr“, sagte der Fuchs zu dem regungslosen Körper des Marders, der nicht geahnt hatte, dass er nur benutzt worden war. Der Fuchs lachte. Seine List war aufgegangen. Zuerst rupfte er den Raben. Nach getaner Arbeit begann er ihn gierig aufzufressen. Das Beste zuerst, bevor es ihm irgendjemand klauen konnte. Gerade als der Fuchs sich den Raben einverleibt hatte und sich über den Marder hermachen wollte, fiel ein großer Schatten auf ihn. Mit blutverschmiertem Maul blickte er verwirrt in den Himmel, der den ganzen Tag ringsherum bis zum Horizont völlig wolkenlos gewesen war. Pures Entsetzen befiel ihn und seine grässlichen Todesschreie waren weithin zu hören. So hatte er in seinem Fressrausch nicht bemerkt, dass ein kleiner Rabe über ihn geflogen war und ihn bei seinem blutigen Tun beobachtet hatte. Der kleine Rabe war sogleich zu seinem Schwarm geflogen und hatte allen von seiner Beobachtung erzählt. Daraufhin flogen die Raben, welche auf einem abgeernteten Maisfeld hockten und nach Körnern suchten, los und rächten auf sehr brutale Weise den Mord an ihrem Schwarmmitglied.