Das Märchen vom Prinzen, der nicht lieben durfte

Es war einmal ein junger Prinz, der lebte in einem großen Schloss. Sein Vater war der König und seine Mutter die Königin des Landes. Er hatte zwei Geschwister. Einen jüngeren Bruder sowie eine ältere Schwester. Der Königsfamilie waren viele Diener und Dienerinnen unterstellt, die sich um deren Wohl sorgten. Sie kochten, hielten die Gemächer sauber und warm, kümmerten sich um die Erziehung und Bildung des königlichen Nachwuchses und, und, und. Es gab wirklich viel zu tun, aber die meisten machten ihre Arbeiten gerne, denn die Königsfamilie behandelte sie gut.

Der König war gerecht und klug, geduldig und verstehend, jedoch gab es eine Sache, die ihn wirklich fürchterliche aufregte. Sein ältester Sohn, der Prinz, sein zukünftiger Nachfolger, hatte sich nämlich in eine Dienerin verliebt. Eine Dienerin! An sich war dies nichts Außergewöhnliches, nein im Gegenteil, Romanzen zwischen Adeligen und Niedergeborenen waren zwar unerwünscht, aber dann doch sehr üblich. Man kann sich eben nicht aussuchen, wen man liebt. Was den König an dieser Liebe so verstimmte, war, dass die Dienerin, in welche sein Sohn sich verliebt hatte, erheblich älter als dieser war. Sie war so alt wie der König selbst, erwachsen, schon ein paar Lachfalten an den Wangen, in den Augen des Königs nicht eines Prinzen würdig. Es war eine ungewöhnliche Liebe, aber dafür eine ausdauernde. Schon damals, als der Prinz erst acht Jahre alt war, hatte er laut verkündet:
 „Ihr gehört mein Herz, ihr alleine. Jetzt und für immer!“
Der König und die Königin hatten gedacht, dass es sich hierbei nur um eine kindliche Liebe handelte, aber da lagen sie falsch. Über die Jahre hinweg liebte der Prinz seine Dienerin nur noch mehr und als dieser schließlich zu einem jungen Mann herangereift war und sie erkannte, dass er es wirklich ernst meinte, erwiderte sie schließlich seine Liebe. So sah man das Pärchen gelegentlich in der Taverne eines schlossnahen Städtchens essen, trinken, lachen und Zärtlichkeiten austauschen. Anfangs waren die Leute gehässig und verspotteten hinter verschlossener Tür den Prinzen und seine ältere Begleitung, jedoch war es irgendwann derart üblich geworden die beiden Liebenden so zu sehen, dass sich niemand mehr daran belustigte. Das Herz des jungen Prinzen ließ ohnehin keine Zweifel zu. Sie war es, die er an seiner Seite wissen wollte, jetzt und für immer. Jedes Mal, wenn er etwas Luft zwischen seinen prinzlichen Verpflichtungen hatte, besuchte er sie in den Dienerquartieren oder bei ihrer Arbeit. Das Leben eines Prinzen war nämlich anstrengender, als mancher es glauben wollte. Nichts mit ausschlafen, den Tag über bei reichlich Essen, faulenzen, umschwärmt von hübschen Damen, nein. Der Prinz musste stattdessen das Reiten lernen, das Schreiben und Rechnen, fremde Sprachen, den Umgang mit hohen Adeligen sowie deren, oft schlecht erzogenem, Nachwuchs, den Umgang mit dem einfachen Volk, den Schwertkampf, das Bogenschießen, die Grundlagen der Innen- und Außenpolitik und noch vieles, vieles mehr.

Dem König und seiner Königin gefiel diese Liebe überhaupt nicht, nicht ein bisschen.
„Die ist doch viel zu alt für ihn, das ziemt sich nicht!“, hörte man die Königin immer wieder verzweifelt rufen, oder Dinge wie:
„Junge Prinzen heiraten irgendwann schöne und junge Prinzessinnen, keine alten Dienerinnen aus dem einfachen Volk! Hat er Pöbel im Blut, fehlt dem Adel der Mut, das sagten schon meine Großeltern.“
Aber beide wussten, dass ihr Sohn niemals seiner Liebe entsagen würde, zumindest nicht freiwillig. Daher schickte der König eines Tages seinen Sohn auf die Burg eines befreundeten Königs, der ein Nachbarland regierte, in der Hoffnung, dass sein Spross dort einen Herzenswandel durchmachen würde und vielleicht sogar Interesse an dessen wunderhübschen Tochter, Prinzessin Fingolfine, finden könnte. Doch dem war nicht so, ganz im Gegenteil. Der junge Prinz sehnte sich in all der Zeit fürchterlich nach seiner Dienerin und seinem Schloss. Alles andere interessierte ihn nicht und als er nach einem Jahr zurückkehrte, war seine Liebe nur gewachsen.

Weitere Jahre vergingen und der Prinz wuchs zu einem ansehnlichen Mann heran. Weit bis über die Grenzen des Landes war er für seine Schönheit, seine Stärke und sein Kampfgeschick, seine Güte und seine Klugheit bekannt. Allen Widerständen zum Trotz, blieb er weiterhin an der Seite seiner geliebten Dienerin. Doch der König und die Königin hatten schließlich genug. Sie konnten es nicht mehr ertragen und arrangierten eine Heirat mit Prinzessin Fingolfine aus dem benachbarten Land, welches der Prinz einst besucht hatte. Als sie ihrem Sohn dies mitteilten, wurde er sehr wütend und wollte die Heirat nicht akzeptieren. Er protestierte, prallte aber mit all seinen Beschwerden völlig an seinen Eltern ab, die kein Nein mehr akzeptierten. Die Hochzeit würde stattfinden, mit oder ohne seine Zustimmung. So war es Brauch.

Die Dienerin seufzte, als ihr der Prinz davon erzählte und sagte nur niedergeschlagen:
„Es musste leider so kommen, mein geliebter Prinz, die Welt ist noch nicht bereit für eine Liebe wie die unsere.“
Der Klang ihrer Stimme und ihr trauriges Gesicht brachen ihm das Herz.
„Ich werde einen Weg finden, wie wir zusammen sein können. Das verspreche ich dir!“, sagte er entschlossen. Gleich danach rannte er in die Burgbibliothek und versuchte eine Möglichkeit zu finden, wie er mit seiner Liebe zusammenleben konnte. Tagelang vergrub er sich in vielen, staubigen Büchern, Schriftrollen und losen Blättern. Seine Augen schmerzten schon vom vielen Lesen, als er schließlich unter einem großen Stapel Bücher ein paar zusammengebundene, vergilbte Seiten Papier entdeckte. Er begann zu lesen und als er so durch die Seiten flog, begann er unruhig zu werden. Er hatte vielleicht einen Weg gefunden. Von einer schwarzen, blätterlosen Eiche, die auf einem großen, von Donnerstürmen umgebenen Berg stand, war dort die Rede. In dieser Eiche lebte anscheinend ein Wesen von großer Macht, welches all jenen einen Wunsch erfüllt, die es erreichen. Der Prinz glaubte nicht an Märchen und Magie, an Geister und Elfen. Alles Geschichten, die ihm seine Großmutter einst erzählt hatte. Aber was, wenn in all diesen Geschichten doch stets ein Funken Wahrheit steckte? Mehr als darauf hoffen, konnte er in seiner jetzigen Situation nicht.

„Der Donnerberg“, flüsterte der Prinz. Das war nicht gut. Der Donnerberg war ein riesiger, pechschwarzer Berg, der sich weit im Osten des Kontinents im Königreich Tempestum befand. Schreckliche Stürme wüteten an dem Berg und in seinem Umland, Blitze zerfetzten die Luft in Stücke und jeder, der es je gewagt hatte einen Besteigungsversuch zu wagen, hatte mit seinem Leben dafür bezahlen müssen. Dies waren die Geschichten, welche über den Berg erzählt wurden und die den Prinzen kalt erschaudern ließen. Wer diese Seiten verfasst hatte, konnte man nicht mehr erkennen, aber der- oder diejenige musste die Spitze des Berges erklommen haben, stellte der Prinz fest. Wie sonst hätte diese Person von einer schwarzen Eiche auf der Spitze des Berges erzählen können?
„Es ist also möglich“, ermutigte sich der Prinz.
Aber er zweifelte noch. Was, wenn dies alles nur eine Geschichte aus der Feder eines phantasiereichen Geschichtenerzählers war? Dann würde er sämtliche Mühen umsonst auf sich genommen haben, völlig erschöpft auf der Spitze des Donnerberges stehen und dort nur verbranntes Felsgestein und den Tod vorfinden. Der Prinz fasste sich an die Brust, an sein Herz und sah vor sich das Gesicht seiner Geliebten, die ihn sanft anlächelte. Und da verpufften alle Zweifel in ihm und er beschloss, das Risiko auf sich zu nehmen.

Über Wochen hinweg bereitete er sich auf seine große Reise vor, die ihn in entfernte Länder, durch Wüsten und Dschungel, über Berge und durch tiefe Täler führen sollte. Er verbrachte auch viel Zeit damit, alles über den Donnerberg herauszufinden, aber nur in wenigen Büchern fand dieser überhaupt eine Erwähnung. Es schien, dass selbst die tapfersten Abenteurer bei der bloßen Nennung dieses Namens allen Mut fallengelassen hatten. Aber der Prinz gab nicht auf. Seine Liebe war stärker als die Furcht. So kam es, dass er an einem verregneten Abend in das Gemach seiner Geliebten schlich und ihr von seinen Plänen berichtete. Oh, wie sich ihre Augen weiteten und ihr Herz wummerte, als sie davon hörte. Unter Tränen fiel sie ihm um den Hals und flehte ihn an, dass er doch hier bei ihr bleiben solle.
„Das geht nicht und wenn, dann ist es nicht von Dauer. Mein Vater, meine Mutter…sie lassen es nicht mehr zu“, sagte er und wischte ihr eine Träne von der Wange, strich ihr durch das graue Haar. Er fand sie wunderschön. Sie erkannte, dass er entschlossen war und so liebten sie sich noch ein letztes Mal, bevor er aufbrach. Am Morgen danach, noch bevor die Sonne über dem Horizont aufging und der erste Hahn krähte, schlich sich der Prinz mit einem großen Rucksack durch die Kanalisation der Burg davon und trat seine lange, lange Reise an.

Er vermied es in Städten zu rasten, um nicht so viel Aufmerksamkeit zu erregen und im schlimmsten Falle sogar erkannt zu werden, ging abseits der Wege und schlief in einem kleinen Zelt aus zusammengenähten Kuhhäuten, das er mit sich führte. Schon wenige Tage nachdem seine Abwesenheit bemerkt worden war, wurde im gesamten Land eifrig nach ihm gesucht. Daher trug er einen großen Kapuzenmantel, wusch sich nicht und schnitt sich nicht mehr den Bart ab, alles um bloß nicht erkannt zu werden. Mit etwas Glück und viel Grips schaffte es so der Prinz aus seinem Heimatland heraus. Ab der Grenze wurde es viel einfacher für ihn, da dort, abgesehen von einigen Adeligen und deren Dienerschaft, die Leute sein Gesicht nicht kannten. Er hielt sich stets fern von Festen und größeren Menschenansammlungen, um nicht Gefahr laufen zu müssen, dass ihn jemand dort entdecken könnte. Er machte nur an einem Ort Halt, wenn er neuen Proviant brauchte. Gelegentlich konnte er auf der Ladefläche eines Pferdewagens mitfahren, wenn ein Bauer ihm dies anbot. Nicht nur einmal musste er während all dem sein Kampfgeschick und seinen Mut beweisen, denn auf einen einsamen Reisenden lauerten damals zahlreiche Gefahren. Räuber, wilde Tiere und das Wetter, waren nur einige seiner Feinde.

Schließlich, nach vielen kleinen Abenteuern, von denen ich dir irgendwann einmal auch noch erzählen werde, erreichte der Prinz die ersten Ausläufer des Donnerberges. Der Himmel verdunkelte sich, je näher er diesem wolkenumtosten, dunklen Ungetüm kam. Ein mulmiges Gefühl legte sich ihm wie ein schwerer Stein in den Bauch, als er auf die blitzespuckenden Wolken blickte. Die Erde um ihn herum war schwarz und überall ragten verkohlte Stümpfe von kleinen Bäumen, die es vor langer Zeit gewagt hatten hier zu wachsen, aus dem Boden. Die Luft war erfüllt vom Donnergrollen und der Geschmack von Asche lag dem Prinzen wie ein bitterer Pelz auf der Zunge. Sein Herz trommelte, sein Blut rauschte durch seine Adern. Tief in ihm regte sich etwas. Keine Angst, nein, ganz im Gegenteil. Der Gedanke an den vor ihm liegenden Aufstieg erweckte etwas Tierisches, Primitives in ihm. Den Willen zu überleben, die Grenzen des Möglichen zu überwinden. Ein altes Lied, dass immer in der Kriegshalle seiner Burg vor einer großen Schlacht angestimmt wurde, verlies als Flüstern seine Lippen.

Er legte alles ab, was er nicht für den Aufstieg brauchte und verstaute es unter einigen großen Steinen, die er zu einem runden Haufen auftürmte. Bei jedem Schritt wirbelte er kleine Aschewolken auf. Er nahm nur seinen Wanderstock, etwas Wasser sowie hartes, getrocknetes Brot mit. Seinen Kapuzenmantel ließ er ebenfalls zurück, den dieser war schwer und warm. Sein Schwert ließ er zurück, denn es war zwar scharf, aber aus Metall und Blitze lieben bekanntlich Metall. Noch ein letztes Mal sah er zurück, sah die grünen Hügel in der Ferne, aus der gekommen war. Er sah eine dünne, blaue Linie, der Fluss Rhon, den er auf einem Floß hatte überqueren müssen und einen braunen Fleck, ein kleines Dorf, dass von den Neugierigen lebte, die den Donnerberg einmal aus sicherer Nähe sehen wollten. Dann drehte er sich um, trommelte sich zur Ermutigung fest auf die Brust und begann den Aufstieg. Wie eine Bergziege sprang er den Hang empor, nutzte die Kraft seiner Beine, zog sich an Überhängen hinauf, nutzte die Kraft seiner Arme. Er kam schnell voran, doch jedes Mal, wenn er glaubte dem Gipfel ein Stück nähergekommen zu sein, schien dieser sich weiter vor ihm in die Höhe zu ziehen. Der Blitze wurden es währenddessen immer mehr und die Sonne versteckte sich irgendwo hinter den dunklen Wolken. Nur wenn die Blitze leuchteten, sah er etwas und konnte weiterklettern. Ihr Donner ließ ihn und die Erde erzittern. Kleine Gesteinsbrocken und Asche rieselten stetig auf ihn herab. Allmählich, nach einigen Stunden guten Vorankommens wurde der Prinz langsamer. Hier, weit oben am Hang, dort wo es immer dunkel und gewittrig war, wo Tag und Nacht eins sind, verlor er jedes Zeitgefühl und bereute seine Entscheidung, an diesen Ort gekommen zu sein. In einer kleinen Einbuchtung im Berghang kauerte er sich zusammen und hielt sich die Ohren zu.
„Lass mich in Ruhe!“, brüllte er dem Donner zu, doch dieser interessierte sich keinen Deut um das verzweifelte Flehen des verängstigten Prinzen und grollte munter weiter.
„Hier geht es mit mir zu Ende“, dachte der Prinz und weinte. Wie ein Fluss in der Wüste, rollten ihm die Tränen über die verschmutzten Wangen. Doch dann, im größten Moment seiner Verzweiflung, als er sich schon fast in die Tiefe, aus der er gekommen war, stürzen wollte, sah er ein Gesicht vor sich. Sie, seine Geliebte, seine wahre Liebe. Sie war es gewesen, weshalb er so weit gekommen war, weshalb er all diese Mühen auf sich genommen hatte. Neuer Mut und neue Kraft durchströmten ihn und trieben ihn an. Er raffte sich auf, schüttelte die Erde und die Asche von sich. Steil und glatt war das Gestein, heiß und verdorben die Luft, verpestet von tausend Feuern, die um ihn herum brannten. Überall spalteten Blitze die Welt, den Himmel, die Zeit selbst. Der Prinz sang laut das Kriegslied seiner Ahnen und blickte nicht zurück. In ihm brannte trotzig die Flamme des Mutes und der Liebe hell wie die Sonne.

Nach endlosen mühevollen Stunden, vielleicht Tagen erreichte der junge Prinz schließlich die Spitze des Donnerberges, das Ziel seiner langen Reise. Ganz plötzlich, über einem großen Felsbrocken, den er emporklettern musste, zeigte sie sich ihm. Groß wie ein Gerstenfeld, eröffnete sich ihm eine völlig ebene Fläche. Kein Blitz stahl sich hier aus den Wolken, als ob sie es nicht wagen würden, den Boden zu berühren. Der junge Prinz erstarrte und begann dann Tränen der Freude zu vergießen. Denn in der Mitte dieser seltsamen Ebene, stand tatsächlich ein riesiger, pechschwarzer Baum. Die blätterlose Eiche aus den Legenden, von der er in den uralten Schriften gelesen hatte. Vorsichtig trat er an sie heran und staunte, denn ihre Rinde war glatt wie geschliffenes Glas und sehr kalt, als er sie berührte. Der Prinz umkreiste den dicken Stamm und siehe da, auf einer Seite fand er einige Wurzeln, die wie riesige Schlangen aus dem Boden ragten und den Eingang einer dunklen Höhle umrahmten. Vorsichtig ging er darauf zu, denn er hatte Angst, dass irgendetwas plötzlich aus ihr hervorspringen und ihn angreifen könnte, aber nichts dergleichen geschah. Er trat ein und die Dunkelheit umschloss ihn sogleich. Er sah zuerst nichts und tastete sich blind an der Wand entlang. Es ging langsam abwärts und je weiter er in den dunklen Schlund stieg, desto heller wurde es in der Höhle. Feine, rote Linien entsprangen dem Felsgestein. Sie pulsierten und mit jedem Leuchten konnte der Prinz ein paar Schritte vorankommen, hinein in den Bauch des Berges. Schließlich, umgeben vom roten, pulsierenden Licht, gelangte der junge Prinz an ein silberfarbenes Gebilde, das den gesamten Tunnel vor ihm ausfüllte. Verblüfft starrte der Prinz auf dieses eigenartige Hindernis. Eine silbrige Flüssigkeit waberte in feinen Wellen umher, schwappte an den Rändern wie an einem Strand empor und zog sich dann wieder langsam zurück.
„Was nun?“, fragte sich der Prinz und zupfte nachdenklich an seinem Bart. Vorsichtig trat er an das wabernde Silber heran. Er streckte seine Hand aus und in genau in dem Moment, als er es berührte, umschlang es blitzschnell seinen Arm und er wurde mit der Kraft von zehn Riesen in es hineingezogen. Perfektes Nichts umgab ihn. Keine Dunkelheit, kein Licht, er schwebte im Dazwischen. Ein mystischer Ort, fern aller uns bekannten Welten. Und von dort, der Geburtsstätte der Magie, des Lebens und der Zeit, sprach eine tiefe Stimme klar und deutlich zu ihm:
„Was ist es, das du suchst? Hier, am Ende und am Anfang. Sprich einen Wunsch aus und er möge in Erfüllung gehen. Doch wähle weise, denn jeder Wunsch hat seinen Preis. Nichts ist ohne Folge.“
Der Prinz, dessen Augen Dinge sahen, die er nicht zu verstehen in der Lage war, antwortete aus seinem Herzen heraus:
„Meine Liebe und ich möchten zusammen sein, Seite an Seite das Leben genießen. Die Welt verbietet uns jedoch zu sein, wie wir sind und ich suche einen Weg, wie wir zu unserem Glück finden können. Dafür bin ich gekommen, dies ist mein Wunsch. Ich möchte zusammen sein können mit der Frau, der mein Herz gehört.“
„So ist es und so soll es sein. Möget ihr zu Glück gelangen.“
Der Prinz wurde müde, so müde, wie er es noch nie zuvor gewesen war. Er wendete seinen Blick ab von den Wundern, rollte sich zu einer Kugel zusammen und schlief ein. All seine Leiden wurden im Schlummer von ihm genommen und als er erwachte, fand er sich unter einer großen, alten Eiche wieder, die vor saftig grünem Laub nur so strotzte. Er stand auf und sah sich verwundert um. Überall Bäume und hoch wucherndes Dickicht. Der Himmel, sofern er ihn durch das Blätterdach erkennen konnte, war blau und von einzelnen Wolkenschiffen befahren. Das Plätschern eines Baches drang zwischen den Stämmen hervor und der Prinz stellte fest, dass er sehr durstig war. Gierig trank er aus dem kühlen Nass und als er sich etwas Wasser ins Gesicht schütten wollte, um sich zu waschen, zuckte er vor Schreck zurück. Seine Hände waren faltig, wie vertrocknet und seine Haut am Handrücken von Flecken übersäht. Als er erkannte, was da mit ihm geschehen war, musste er laut lachen. Er war gealtert, um einige Jahrzehnte und niemand, der ihn je gekannt hatte, würde ihn so wiedererkennen. So konnte er wahrhaftig mit seiner Geliebten zusammen sein. Sein Wunsch war in Erfüllung getreten und er hatte dessen Preis bezahlt.

Niemand erkannte den alten Prinzen, als dieser durch die Länder streifte und zu seinem Königreich zurückkehrte. Niemand erkannte ihn, als er sich auf der Burg als Diener vorstellte und um eine Anstellung bat, die ihm auch gewährt wurde. Des Prinzen Herz bebte, als er schließlich die Tür zur Kammer seiner geliebten Dienerin aufstieß, die an einem Tisch saß und nähte. Sie sah ihn verwundert an, fragte ihn, wie sie ihm behilflich sein könnte, aber kein Wort kam ihm über die Lippen. Sie stand auf und trat näher an ihn heran. Da erkannte sie den Prinzen an seinen Augen, die noch so wild und verliebt wie früher waren. Sie knickte ein, weinte und weinte, während er sie festhielt und mit sanften Küssen benetzte. Und so lebten der Prinz und seine Dienerin von da an glücklich zusammen als Paar am königlichen Hofe. Die Liebe hielt sie beide jung und so verbrachten sie noch viele, viele wundervolle Jahre in Zweisamkeit.

Kommen und Gehen

Er war nicht gut im Alleinesein, aber leider auch nicht in Sachen Zweisamkeit. Es war ihm schon immer schwergefallen sich anzupassen. Irgendwie ging es nicht, wollte er nicht. Sie kamen und gingen und wenn sie fort waren, saß er abends lange da und sagte und dachte an nichts, fühlte einen Stich, nie aber ein Loch. Zu seinem Glück oder auch Unglück war er groß und ansehnlich und musste sich nie besonders viel Mühe geben eine neue Freundin zu finden. Ihm lag nicht viel an Dates oder langen, tiefsinnigen Gesprächen, aber vielleicht gerade deswegen zog er das andere Geschlecht so sehr an. Sein Desinteresse war nicht gespielt, vielmehr mit den Jahren ein Teil seines Selbst geworden. Er vermied es am öffentlichen Leben teilzunehmen, am Leben seiner Mädchen ebensowenig und den Dingen, welche ihnen gefielen. Er schrieb unregelmäßig zurück, rief selten an, kommentierte keine Fotos, mischte sich allgemein nirgendwo ein, wollte im Grunde nur in Ruhe gelassen und nicht in Konflikte verwickelt werden. Irgendwann hatten sie es alle satt. Irgendwann kamen die Vorwürfe und das Geschrei, irgendwann stellten sie alle fest, dass er nicht formbar war, sich niemals zu einer ihrer Idealvorstellungen von einem Mann entwickeln würde. Dann gingen sie oder er löste es auf, war am Ende ja auch egal. Der Stich war da, aber nie lange. So langsam wurde er aber müde davon.

Die Spülmaschine pumpte das Wasser ab und stellte dann auf Trocknen um. Als sie fertig war, hörte man ein Klicken, einen kurzen Piepton und ein grünes Lämpchen leuchtete auf. Er freute sich, denn er liebte die Wärme und den Ablick des heißen Wasserdampfes, wenn dieser aus der Maschine quoll und an der Decke umherwaberte.
„Mach das Fenster auf, bevor du die Maschine öffnest, sonst ist nachher alles so feucht“, rief sie aus dem Wohnzimmer. Er betrachtete den Fenstergriff, schaute zur Spülmaschine. Als sie in die Küche trat und ihn mit kindlicher Freude in den Augen dastehen und den Moment genießen sah, war das Fenster geschlossen.

An ferner Front

„Bssss-rrrr-bssss-rrrr-bssss“, machte es, dann herrschte wieder Stille und die Drohne war fort. Schlimmer als jede Stechmücke, dachte Steffen und drehte sich in seinem Feldbett herum. Jede halbe Stunde flog dieses Teil auf seiner Patrouille durch das Camp an Steffens Zelt vorbei. Der Mond war eine gelbe Sichel und eingebettet in einem sternenbehangenen, wolkenlosen Himmel, was Steffen durch einen Luftschlitz sah und wohl schön gefunden hätte, wenn er nicht völlig übermüdet gewesen wäre und einfach nur einschlafen wollte, was ihm nicht gelang. Es war verflucht kalt geworden in den letzten paar Tagen, so kalt, dass es morgens unter seinen Stiefeln knirschte, wenn er aus dem Zelt trat und zu den Latrinen schlenderte. Kalt und langweilig, anstrengend und langweilig, Wachdienst, warten, warten, warten, Wachdienst, warten, warten, warten, damit konnte man die letzten Monate gut zusammenfassen. Ab und zu eine dumpfe Explosion in der Ferne und dann schwarze Rauchwolken am Horizont, das war mittlerweile Steffens Krieg. Es war ihm lieber so, das Warten und die damit verbundene waren besser als das Sterben in der Zeit, als sie noch fast täglich mit Mörsern, Drohnen und Robotern angegriffen wurden. Jetzt hatte sich der Krieg verlagert und das Chaos und Sterben fand weiter entfernt statt.

Er schloss die Augen und versuchte an etwas Schönes von früher zu denken, nicht nur um endlich einzuschlafen, sondern auch um den Hunger, der wüst in seinen Eingeweiden wühlte, zu verdrängen. Er erinnerte sich daran, wie er und seine Freunde im Sommer als stramme Clique damals auf dem Ascheplatz ihres Dorfes Fußball gespielt hatten. Das laute Klirren, wenn einer von ihnen den Ball neben das Tor geschossen hatte und dieser in den haushohen, stählernen Ballfangzaun krachte. Hinter dem Zaun war ein Parkplatz und dahinter lag das Tennisclubheim mit seinen drei nebeneinanderliegenden Spielfeldern. Einmal hatte Roman Winkel es geschafft den Ball dermaßen über das Tor zu jagen, dass er ihn vom zweiten Tennisfeld hatte holen müssen, während Steffen und die anderen sich vor Lachen auf dem Boden wälzten. Sie spielten, bis der ganze Bereich vor dem Tor mit ihren Schuhabdrücken übersät war und man die mit Kreide aufgetragenen Linien kaum noch sehen konnte. Wenn die Mädchen vom Tennisclub nach dem Spielen auf ihre Fahrräder stiegen und davonfuhren, pfiffen Steffen und die anderen ihnen begeistert nach.

Jetzt lag er hier und ihm war immer noch kalt und er war immer noch hungrig und konnte immer noch nicht schlafen. Irgendwie weigerte sich sein Körper, ihm in dieser Nacht Ruhe zu gewähren. Aufstehen wollte er nicht, denn manche seiner Kameraden hatten einen sehr leichten Schlaf und er wollte sie nicht aufwecken. Je länger sie an der Front waren, desto schreckhafter wurden einige, andere wiederum schliefen fest und gleichgültig und die Tauben sowieso. Die musste man im Alarmfall wachrütteln, sonst rührten sie sich nicht, zumindest solange nicht, bis die ersten Granaten einschlugen und das Camp erschütterten. Der Hunger war unnachgiebig und wühlte weiter und weiter, aber das kannte er schon. Fett macht der Krieg nur die Waffenverkäufer und Lobbyisten.
„Bssss-rrrr-bsss, wiuuuu“, machte es und Steffen horchte auf. Dann explodierte plötzlich alles um ihn herum und der Hunger kümmerte ihn nicht mehr und an Schlaf brauchte er auch nicht mehr zu denken und oben in der Luft über dem Camp, da summte es laut und fleißig, während die Drohnen des Feindes ihre Bomben abwarfen und aus hundert Rohren das Feuer eröffneten.

Ausstieg

„Du nervst mich“, sagte sie, „weißt du das?“
„Nein“, erwiderte er und sah sie nicht an.
Draußen rauschte ein altes, mit Graffitis besprühtes Fabrikgebäude vorbei.
„Hörst du? Du nervst mich“, sagte sie wieder und kratzte mit den Fingernägeln so fest auf ihrer schwarzen Ledertasche herum, dass es helle Spuren hinterließ.
„Ja, ich weiß“, entgegnete er.
„Und?“
„Wird Reden es besser machen?“
„Nein, ich denke nicht.“
Sie schwiegen sich an und blickten beide aus dem Fenster. Der Zug kletterte einen kleinen Hügel hinauf und sie konnten am Hang unter ihnen herbstbunte Reben sehen, zwischen denen hier und da jemand einer Arbeit nachging.
Sie brach zuerst die Stille.
„Das ist es also“, stellte sie fest.
Er sah immer noch raus, richtete seinen Blick in den Himmel, in die Wolken und antwortete nicht, aber sie erwartete auch keine Antwort mehr.
Sie fuhren ratternd über eine Brücke, unter der eine Straße verlief.
Kaum Verkehr, weil Dienstagmittag, angenehm warmes Abteil, keine Fahrscheinkontrolle und eindeutig zu viel Nüchternheit während der zwei Stunden Zugfahrt, zu viel Zeit zum Nachdenken, für Zweifel, viel zu viel, wenn man so zusammen reist, ging es ihm durch den Kopf. Sie saß da und sah ihn an, ganz genau, wie eine Malerin, die ein Porträt beginnen wollte.
Noch zwei Stationen, ein paar Minuten vor der Endgültigkeit.
„Es war schön, solange es schön war“, sagte sie noch, bevor sie sich von ihrem Platz erhob. Sie gaben sich eine letzte lange Umarmung und beiden war unwohl dabei, beide warteten darauf, dass der andere zuerst losließ.
„Ja, es war schön“, sagte er ihr ins Ohr, drückte sie noch einmal fester an sich und gab sie dann frei. Es piepte laut, bevor der Türknopf Grün zeigte und die Türen aufschwangen. Dann war sie fort.


Autopilot

Keiner war je da gewesen, um hier aufzuräumen. Alles auf Autopilot, bis entweder der Saft ausging, oder es sich zu Schrott gefahren hatte. Die Straße war hoffnungslos verstopft von ineinander verkeilten Wracks. Knotenpunktchaos. Er seufzte, zog sich Handschuhe an. „Wieder so ein Tag, wieder so ein verdammter Tag“, ging es ihm über die Lippen. Er warf ein kleines Stück Schrott gegen die Ladeluke eines auf der Seite liegenden AM-HTVs (Automatic Heavy Transport Vehicle), Baujahr 2052, mit Solarmatic, selbstladend, unbegrenzte Reichweite. Nur eben nicht, wenn man auf der Seite liegt und sich die Reifen sinnlos in der Luft drehen, wie das Windrad einer verlassenen Mühle, wie Käfer, die auf dem Rücken liegen und verzweifelt strampeln.

Hohl schepperte es zu ihm zurück, nichts zu holen. Mühsam bahnte er sich einen Weg durch den Fahrzeugfriedhof und als er ihn endlich hinter sich gelassen hatte, war er völlig durchgeschwitzt und außer Atem. Man, muss das alles ein Höllenkrach gemacht haben, tolle Feuer, kreischendes Zerbersten im Mondschein, im Regen, unter brennender Sonne. Rote, gelbe, blaue, grüne, violette Wracks und viele, viele graue und schwarze, weil verbrannt, viele am Straßenrand, von der Natur vereinnahmt, ganz still. Mussten das tolle Feuer gewesen sein, muss das toll gekracht haben, als sie alles sich selbst überließen, dachte er. Jetzt war alles so verdammt still, von dem Vogelgezwitscher mal abgesehen. Verdammte Vögel überall.

Und jetzt stand er da, so alleine, so zurückgelassen und lief die Straße entlang, vorbei an den Wracks, über die Wracks, unter den Wracks durch, wie es eben ging. Den gelben, grauen, blauen, roten, grünen, weißen, grauen und schwarzen Wracks, von denen allen bereits die Farbe abblätterte, alle mit einem Stich Grün. Es fuhr hier nichts mehr, es brannte hier nichts mehr, es krachte hier nichts mehr. Und er ging die Straße lang, die lange Straße lang, weil er sie gefunden hatte und hoffte. Hoffte, dass da vielleicht noch jemand war, der diese Straße gefunden hatte und sie nun entlanglief, weil es sie gibt und weil es dann vielleicht noch jemanden gibt, der zurückgelassen wurde, damals, als die Menschen die Erde verließen.

Der Tunnel

Schon als das hohe, kurze Pfeifen an seine Ohren gedrungen war, hatte er gewusst, dass ihm Gewalt bevorstehen würde. Von beiden Seiten der Bahnschienenunterführung kamen sie auf ihn zu, hatten wohl gewartet, bis er etwa in der Mitte des Tunnels angelangt war. Acht an der Zahl, ordentliche Schränke. Nur einer stach hervor, klein und krumm, vermutlich der Anführer dieses Trupps. Er blieb stehen, sah sich um und ließ sie näherkommen, machte sich bereit. Er sah Baseballschläger, Butterflys und Schlagringe, vermutlich hatte irgendeiner von denen aber auch noch eine Knarre dabei. Die Bande plusterte sich auf, versuchte ihn mit Drohgehabe einzuschüchtern. Statt Angst empfand er jedoch Belustigung und musste sogar laut loslachen, was seine Angreifer derart irritierte, dass einige von ihnen kurz stehen blieben. Der kleine Krumme, dessen hohe Krächzstimme zu seinem Aussehen passte, bellte einen Befehl, woraufhin die Meute sich wieder in Bewegung setzte. Wer auch immer diese Schläger geschickt hatte, hatte ihnen entweder ein bedeutsames Detail ihres Auftrages vorenthalten und wollte sie loswerden, oder hatte es vergessen, oder war schlichtweg zu dumm, um zu kapieren, mit wem und was er sich da angelegt hatte. Nun war es ohnehin zu spät. Das Kommende ließ sich nicht mehr aufhalten.

Er schloss die Augen, atmete tief ein und sammelte sich. Die Typen sahen dies, hielten es für ein Zeichen von Angst, lachten, klapperten mit den Baseballschlägern hart an die Tunnelwände, was jedes Mal ein helles Klirren erzeugte, das durch den Tunnel hallte. Er drehte sich seitlich zu ihnen hin und streckte dann seine Arme gerade aus, wandte beiden Gruppen jeweils eine Handfläche zu und flüsterte, als er seine Augen öffnete: „ignem magnum facere“.
Angekündigt durch ein kurzes Leuchten, sprang dann aus seinen Händen die Hölle selbst hervor. Zwei gewaltige Feuerstrudel schossen in beide Richtungen davon und stürzten sich in unendlicher Gier auf die schreienden Männer. Alles was nach dem Inferno von ihnen übrig blieb, waren verkohlte Brocken. Es stank widerlich nach verbranntem Fleisch, die Tunnelwände waren schwarzgebrannt.
„Wer greift denn bloß einen Feuermagier in einem Tunnel an?“, dachte er und schüttelte verwundert den Kopf, während er über die schwelenden Überreste stieg. Er ging weiter, holte ein paar Brötchen beim Bäcker und freute sich auf das Frühstück. Als er die Bäckerei verließ, konnte er in der Ferne Sirenen hören.

 

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PS: Ich hoffe, dass mein Latein noch nicht komplett verrostet ist und ich die Wörter richtig flexiert habe 😀 . Falls nicht, bin ich dankbar für die korrekte Schreibweise.

Liebe Grüße,

Max

Scherbensturm

„Bitte beschreiben, oder versuchen Sie zumindest, mir Ihre Visionen noch einmal genauer zu beschreiben. Was sehen Sie? Was fühlen Sie?“, sagte Dr. Heck und tippte mit der Spitze seines rechten Zeigefingers dreimal rhythmisch auf die Lehne des schwarzen, gepolsterten Lehnstuhles. Einmal langsam, zweimal schnell. Tok-toktok, Tok-toktok.  Marc hasste dieses Geräusch. Tok-toktok, Tok-toktok. Er schloss die Augen, ließ sich fallen und redete los:

„Wenn…wenn es losgeht“, begann er „stehe ich plötzlich auf der Straße. Sie wissen schon, DIE Straße, diese verdammte Straße durch das Waldstück in meiner Nähe.“
Dr. Heck sagte nichts und ließ Marc weitererzählen.
„Erst ist es still, aber dann, zack, wie mit einem Fingerschnipps, faucht mir ein fürchterlicher Sturm, der Sturm aller Stürme entgegen. Nur führt er keinen Regen mit sich, nein, sondern Scherben. Unendlich viele Scherben schlagen mir entgegen, schneiden mich, zerfetzen mich und meine Kleidung, bis ich völlig nackt bin, schutzlos. Überall werde ich geschnitten, kann es nicht verhindern. Die Farben der Welt verändern sich rasch, kippen, bis nur noch blutiges Rot und Schwarz mich umgeben. Die Sonne stirbt und der Mond nimmt ihren Platz ein, blutrot, schwer, zu schwer. Manchmal macht er es erst später, manchmal sobald ich ihn erblicke, aber jedes Mal kracht er vom Himmel herunter, direkt vor mir auf die Straße und rollt dann durch den Sturm schnell auf mich zu, will mich zermalmen. Ich drehe mich um und versuche wegzurennen, umpeitscht von diesem Höllengetöse, renne bis meine Lungen fast platzen, aber der Mond ist immer schneller als ich. Ich sehe seinen Schatten über mir, dann wird alles schwarz.“

Während Marcs Erzählung sah Dr. Heck, wie sein Patient sich verkrampfte. Dieser grub seine Hände in das Polster der Couch, bis einige Adern an den Händen und Armen deutlich hervortraten und ihm Schweißperlen von der Stirn in die Augenbrauen rannen. Der gesamte Körper war in höchster Erregung und immer wieder zuckte irgendein Körperteil ruckartig zusammen. Die Augen, der Mund, eine Hand, ein Fuß. Sein Patient litt auch jetzt. Kein Simulant.

„Wenn ich dann wieder die Augen aufmache, liege ich auf dem Bauch, immer noch nackt, und kann mich nicht bewegen. Um mich herum ist es dunkel, aber nicht mehr so dunkel wie zuvor, denn der Mond hängt wieder im Himmel und ist zum Glück nicht mehr blutrot, sondern schneeweiß. Der Rest der Welt hat sich auch verändert. Keine Straße mehr, keine Bäume, nein, stattdessen liege ich in einer flachen, endlosen Landschaft aus Asche. Ich kann es riechen und fühlen, der verbrannte Geruch, Knochen unter dem staubigen Grau. Ich will aufstehen, aber es geht nicht. Dann höre ich ein ohrenbetäubendes Krachen, der Aufprall, und der Wahnsinn beginnt dann von neuem. Überall steigt aus der Erde ein feiner Nebel, der sich als dünne Schicht auf sie legt und bedeckt, bis zum Horizont und darüber hinaus, nur mich nicht. Ich bin eine kleine Insel in diesem Nebelmeer. Ein zitternder, schwarzer Punkt im endlosen Weiß. Schließlich ist es vollendet und der Nebel perfekt. Dichter und weißer könnte kein Nebel der Welt sein. Ich liege da, zur Untätigkeit verbannt, das Grauen erwartend, welches sich mit den schrecklichen Schmerzensschreien meiner Frau und meiner Tochter ankündigt. Ich höre die beiden direkt hinter mir, versuche mit all meiner Kraft mich loszureißen, will ihnen helfen, aber es geht nicht. Die Schreie verstummen so plötzlich, wie sie begonnen haben. Es geht weiter.

Vor mir sehe ich dann, wie ein kleiner, dünner Arm lautlos aus dem Nebel auftaucht. Er gleitet auf mich zu, bis er direkt vor meinem Gesicht ist. Die Hand hängt schlaff am Gelenk herab, wie eine tote Narzisse. Es bleibt aber nicht bei dem einen Arm, ganz im Gegenteil. Weitere tauchen auf und gleiten heran, bis ich umgeben bin von diesen Nebel-, diesen Totenarmen.
Marc knirschte mit den Zähnen, was Dr. Heck nicht entging, und biss sich so fest auf die Lippen, dass er Blut schmeckte.
„Plötzlich schrecken die Hände hoch und packen zu. Die erste Hand reißt mir ein Auge heraus, die anderen was sie ergreifen können. Ich schreie und schreie, während ich in Stücke gerissen werde. Dann endlich komme ich zu Sinnen, irgendwo in der Natur, alleine. Wie ich dort hingekommen bin, daran erinnere ich mich nie. Meistens liege ich am Boden, bin völlig verdreckt, weil ich mich offensichtlich herumgewälzt habe. Und dann rufe ich sie sofort an, muss ihre Stimmen hören, sofort, mich davon überzeugen, dass es den Autounfall nie gegeben hat, dass sie beide noch leben. Doc, ich kann nicht mehr. Das geht so nicht weiter. Ich werde noch irre.

Dr. Heck nickte und lächelte mild. Er ging rüber zu Marc, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sah ihm in die Augen:
„Das bekommen wir schon in den Griff Herr Bruhn. Zuallererst werde ich Sie von der Arbeit frei stellen, Ihnen etwas zur Beruhigung verschreiben und dann sehen wir weiter. Die menschliche Psyche ist etwas Faszinierendes und manchmal Fürchterliches. Unser Körper und unser Hirn reagieren auf Stress ganz unterschiedlich, in Ihrem Fall sehr extrem mit diesen realitätsverdrängenden Visionen, den Wahnvorstellungen, die Sie plötzlich überfallen. Gönnen Sie sich so viel Ruhe wie möglich. Mit einem Burnout wie dem Ihrem ist nicht zu spaßen.“
Marc verließ die Praxis mit einem guten Gefühl, jedoch fürchtete er sich vor der nächsten Stressattacke, der nächsten Psychose, die irgendwann kommen würde. Dann rief er Sarah an und als er ihre Stimme hörte, kam er endlich wieder etwas zur Ruhe.

Badgedanken

Mit jedem Atemzug hob sich sein Bauch um den Nabel herum wie eine kleine Insel aus dem Schaumbad, das mittlerweile kalt geworden war. Aber er blieb weiter darin liegen, schaute sich seine schrumpeligen Finger an, tauchte gelegentlich mit dem Kopf unter Wasser und versuchte seinen Herzschlag zu hören, kratzte mit dem Fingernagel an der Wannenwand, klopfte mit den Knöcheln dagegen und war von den Geräuschen fasziniert.

Er sah rüber zum dampfblind gewordenen Spiegel und sah ihre Haarbürste auf dem Keramikbrett darunter liegen, daneben ihr Fläschchen Chloé und ihr schwarzer Fön. War er deswegen liegen geblieben? Sie war auf der Arbeit, starrte in diesem Moment wohl mit entnervter Miene auf den Stapel an Briefen, der während ihres Urlaubes angeschwemmt worden war. Durch das Fenster vor ihm konnte er das letzte Aufbäumen des Herbstes sehen, der sich seit zwei Wochen stolz als Sommer verkleidet hatte, bevor er recht bald seinem stillen Bruder namens Winter Platz machen musste. Neben ihm stand auf einem hölzernen Endtisch ein leeres Glas, in dem zuvor Rum einen Tanz mit Eiswürfeln und etwas Limettensaft eingegangen war. Der kalte Drink und das warme Bad hatten sich nicht vertragen, aber er hatte den Alkohol an diesem Morgen gebraucht, wie er auch das Bad gebraucht hatte. Nur Säufer trinken am Morgen, Säufer und Kreative, alte Leute und Urlauber, keine jungen Arbeitsmenschen, wie denn auch. Manchen würde sicherlich etwas Leichtigkeit im Alltag guttun und wer weiß, vielleicht würde dies sogar manch ein Geschäft erleichtern, wenn zuvor die beteiligten Parteien einen oder zwei gekippt hätten.

Sowohl die Haarbürste, als auch das Chloé und der Fön gehören da nicht hin, stellte er plötzlich fest. In seinem Leben waren immer wieder solche Dinge auf diesem Brett gelegen, Dinge, die ihm nicht gehört hatten, aber noch nie war ihm jener Gedanke gekommen, nie hatte er diese Sachen nehmen und aus dem Fenster werfen wollen. Warum jetzt? Was war anders? Sie nicht, oder doch? Sie war, wenn man es nüchtern betrachtete, nur eine weitere Frau in einer langen Liste, die hoffentlich mal ein Ende nehmen würde. Vielleicht ist sie aber auch das Ende der langen Liste und ich bin mir dessen eigentlich bewusst und komme deswegen damit nicht zurecht und habe diese eigenartigen Gedanken und möchte deswegen weglaufen und mich davon lösen, dachte er. Ist es so simpel? Das Wasser fühlte sich plötzlich ganz kalt an. Er stieg aus der Wanne und rieb seinen Körper trocken. Immer wieder sah er auf die Haarbürste, das Chloé und den Fön. Schließlich nahm er einen Mittelweg, der ihn vorerst zufriedenstellte. Er nahm ihre Sachen und verstaute sie in einer Schublade des Badschrankes neben ihm. Nachdem er sich angezogen hatte, verließ er die Wohnung und ging in ein Café zum Frühstücken.

Die schwarze Schlucht (Teil 3/3)

Was ich in den nächsten Minuten mitansehen musste, bereitet mir bis heute fürchterliche Alpträume. Der Nebel war so dicht, dass ich ihn fast greifen konnte. Als ich die Brücke erneut betrat, überkam mich erneut ein Gefühl der Beklommenheit. Mit jedem Schritt schien ich an Kraft zu verlieren, als würde das Holz sie gierig aufsaugen. Ich wischte diese Gedanken weg und tastete mich voran. Zuerst war da nur der Nebel, welcher das Rauschen des Flusses fast verschluckt hatte. Nur ein müdes, dumpfes Brummen war davon übrig geblieben. Aber dann, als ich in etwa die Mitte der Brücke erreicht hatte, sah ich Camilles Silhouette. Ein dunkler, verschwommener Schatten im Nebel. Ich trat näher an sie heran, rief sie, rief sie erneut, doch sie zeigte keinerlei Reaktion. Erst als ich direkt neben ihr stand und ihr Körper wieder klare Linien annahm, sah ich es. Ich erstarrte vor Schreck. Ein dickes Seil wickelte sich wie eine Schlange um ihren Hals und war zu einer Schlinge gebunden. Der Rest war am Brückengeländer befestigt.
Ich schrie noch: „Halt, nein! Lass uns darüber reden!“,
aber meine Worte erreichten sie schon nicht mehr. Schnell und ohne einen Moment des Zögerns stieg sie auf das Brückengeländer, breitete die Arme wie zwei Flügel aus und sprang. Ein sterbender Engel.

Das Seil straffte sich und ein widerliches Knacken übertönte für eine Sekunde das abgetönte Grollen des Flusses. Ich sprang an das Seil heran, ergriff es und betete, dass sie den tödlichen Sprung irgendwie überlebt hatte. Doch als ich daran zog, war da kein Gegengewicht, keine Camille. Das Seil glitt mir durch die Hände, bis ich die leere Schlinge in der Hand hielt. Keine Camille…keine Camille. Fassungslos starrte ich nach unten in das dichte Weiß, versuchte dem einen Sinn zu geben, als ich plötzlich ein lautes Knirschen hörte und spürte, wie der Boden unter meinen Füßen ein Stückchen nachgab. Ich brauchte einen Moment um die Situation zu begreifen, stand da wie festgefroren, doch dann rannte ich los. Miriam, Mama, Papa, Freunde, nicht jetzt, nicht hier, nicht ich. Ich hörte das Holz stöhnen und ächzen, sah, wie sich das Geländer vor mir langsam nach außen neigte. Die gesamte Brücke geriet in Schieflage, und ich mit ihr. Ich rannte, doch glitt schon nach wenigen Schritten aus und fiel hin, krallte mich in das Holz, dass einige meiner Fingernägel zerbrachen und bluteten, kämpfte mich weiter auf den Knien nach vorne, während um mich herum der ein tödlicher Tanz aus berstendem Holz und Beton aufgeführt wurde.

Ich schaffte es gerade noch den rettenden Grund zu erreichen, bevor die ganze Konstruktion mit einem Riesengetöse in die Tiefe stürzte. Fassungslos und zitternd am gesamten Körper starrte ich in den Abgrund, doch der Nebel war zu dicht, als dass ich irgendetwas hätte erkennen können und nur das gedämpfte Rauschen des Wassers war zu hören. Plötzlich vernahm ich ein anderes Geräusch. Ein Jammern, ein Weinen, eine Art Klagen – direkt hinter mir. Ich fuhr herum und da stand Camille, das Kleid zerfetzt, mit bleicher Haut und widerwärtig verrenkten Gliedern. Ihr linker Arm war mehrfach gebrochen, das Weiß der Knochen war zu sehen. Ihr Kiefer fehlte zur Hälfte, wodurch gelbe Zähne sowie faules Fleisch sichtbar wurden und mein Magen sich augenblicklich verkrampfte. Ihr angenehmer Geruch, jene Milde und Süße, waren völlig verschwunden, stattdessen nahmen mir Fäulnis und Verderben die Sinne. Dort wo eigentlich ihre Augen hätten sein sollen, waren zwei schwarze Höhlen. Mir blieb die Luft weg. Der Nebel schien mich ersticken zu wollen. Plötzlich schrie sie, reckte die Arme nach vorne und kam auf mich zu.

Ich rannte davon. Rannte und rannte und rannte und rannte, alle Schmerzen und Erschöpfung vergessend, flog im ausklingenden Sonnenlicht über Wald und Wiesen hinweg, bis ich irgendwann völlig erledigt an eine brüchige Häuserwand des kleinen Städtchens fiel und mich erbrach, bis nur noch zäher gelber Schleim den Boden besudelte. Ein älterer Mann, der gerade die Straße mit einem Strohbesen reinfegte, war sichtlich erschrocken, als ich panisch an ihn herantrat und ihm von meinem Erlebnis in zusammengestammelten Worten berichtete. Auf sein Gesicht legte sich ein tiefer Schatten, als er hörte, wo ich mich herumgetrieben hatte. Er ging mit dem Besen auf mich los, beschimpfte und verscheuchte mich. Ich war irritiert, stolperte zu den nächsten Menschen, zu ein paar Einheimischen, die vor ihrem Haus an einem Tisch Karten spielten, doch auch diese waren mir nicht zugeneigt. Als ich den Wald, die Brücke und das Mädchen erwähnte, loderte ein Feuer in ihren Augen auf und sie jagten mich durch die Gassen, warfen mit Bierflaschen nach mir. Ich rannte zurück in mein Hotel, total verschwitzt und verwirrt, wo mich der Portier mit besorgter Miene begrüßte und die Augenbrauen hob, als er mein jämmerliches Erscheinungsbild genauer bemaß. Doch auch von ihm prallte ich ab, wie von einer Wand. Kein Wort des Mitgefühls, nur kalte Verachtung im Blick. Mit eiskalter, gespielter Höflichkeit übergab er mir den Zimmerschlüssel und wünschte mir eine angenehme Nacht.

Damals verstand ich dies alles nicht und schloss mich für zwei Tage auf meinem Zimmer ein, fürchtete mich vor den Menschen draußen, bevor ich abreiste und nie mehr wiederkehrte. Es brauchte eine lange Zeit, um dieses Erlebnis zu verarbeiten. War das alles nur ein schrecklicher Alptraum gewesen? Hatte ich etwas an diesem Tag etwas Übles geraucht oder eingeworfen und für ein paar Stunden völlig den Bezug zur Realität, zum Jetzt und Hier verloren? So viele Fragen und Zweifel schossen mir im Hirn herum, blockierten mich so sehr, dass ich irgendwann alle Ereignisse dieser zwei Wochen in einen gedanklichen Tresor packte, diesen abschloss und den Schlüssel im Anschluss dessen fortwarf.

Was mich dazu bewegt hat diese Worte zu schreiben, meine Erinnerungen aus ihrer sicheren Verwahrung hervorzukramen, die mir viele Jahre gute Dienste geleistet hat, war ein Artikel, der vor wenigen Tagen in einem Magazin meine Aufmerksamkeit erregte. Ein Sohn jenes Städtchens, ein Steinbildhauer, wurde mit einem gut dotierten Preis ausgezeichnet, weil er anscheinend imstande war mit seinen Figuren aus Granit und pentelischem Marmor die Moderne und die Antike zu einem runden Ganzen zusammenzuhauen. Dieses dünne Stück Papier wirbelte alles in mir durcheinander, riss den Tresor auf, schwemmte die Vergangenheit wieder gnadenlos in mein Bewusstsein. Ich entschloss mich dazu, mich meinen Erinnerungen zu stellen, anstatt sie zu verdrängen. Sogleich begann ich zu recherchieren, versuchte irgendeine Erklärung für das Geschehene zu finden. Nach über einem halben Jahr in Bibliotheken, wurde ich schließlich fündig. Folgendes fand ich heraus:

Im zweiten Weltkrieg war jenes französische Städtchen ein Dorf mit etwa zweihundert Seelen gewesen, das 1940 von deutschen Wehrmachtstruppen besetzt und bis 1944 gehalten worden war. In dieser Zeit geschahen viele Übel und nach dem Abzug der Deutschen hatte sich eine Tragödie ereignet, die bis heute vertuscht wird. All jene, die mit den Deutschen sympathisiert hatten, waren an einem regnerischen Sommertag von Anhängern der Résistance und einem Mob von zornigen Einheimischen wie Vieh zusammengetrieben worden. Im Anschluss ließ man an den Beschuldigten den über Jahre angestauten Frust, das Leid, den Hass aus. Die Männer wurden zusammengeprügelt oder direkt erschossen, den Frauen wurden in sehr grober Weise die Haare mit Scheren abgeschnitten. Die Übriggebliebenen lud man auf einige Pferdewagen. Dann zog die aufgepeitschte Versammlung in einer großen Prozession zur „Gorge noir“ (was übersetzt schwarze Schlucht bedeutet), los. Dort angelangt, erhängten sie einen nach dem anderen, indem sie die Leute mit Seilen um den Hals vom Brückengeländer stießen. Viele zappelten noch eine Weile im Todeskampf, da die Schlingen oft schlampig angelegt worden waren, doch am Ende erschlafften alle Leiber. Die letzte an der Reihe war eine junge Frau in einem weißen Kleid. Als sie von der Brücke gestoßen wurde, da brach auch ihr Genick nicht sofort. Im Gegensatz zu den anderen, um die Sache zu beschleunigen, zog man sie noch einmal nach oben und warf sie erneut in die Tiefe. Beim zweiten Mal, genau in dem Moment, als das Seil sich spannte, da krachte und knackte es laut im Gebälk, der in die Jahre gekommenen Brücke. Einem tragenden Balken waren die erregte Menschenversammlung sowie die Pferde samt ihrer Wagen zu viel geworden. Er splitterte und gab nach, wodurch eine verheerende Kettenreaktion in Gang gesetzt wurde.

So brach die Brücke unter einem gewaltigen Lärm zusammen, wobei Mensch und Tier gleichermaßen in die tobende Tiefe gerissen wurden, welche sie alle gierig verschlang. Der Fluss verstreute die Leichen und Trümmer überall an seinem Ufer. Die ersten Toten, schrecklich entstellt und verkrümmt von ihrem gewaltsamen Ende, trieben bereits durch das Dorf, als zwei Überlebende von den Bergen angerannt kamen, um die schreckliche Nachricht zu überbringen. Sie hatten beim Einsturz am Rand der Brücke gestanden und sich dadurch retten können. Atemlos und mit entsetzten Gesichtern berichteten sie den Leuten von dem Unheil, welches das Dorf in einen schweren Schockzustand versetzte. Man erklärte das Geschehene für ein böses Omen, den Zorn Gottes, und versperrte alle Wege, die zu dem Unglücksort führten. Nie wieder wurde darüber gesprochen und nie wieder sollte darüber gesprochen werden. Die Trauer und die Schande saßen unheilbar tief. Die Menschen hielten eisern ihr Schweigen und so hätten die Jahrzehnte die Ereignisse jenes Schicksalstages wohl begraben, wenn nicht ich in träumerischer Kopflosigkeit zur Schlucht gewandert wäre und außerdem ein reisender Händler, der am Tag der großen Tragödie auf dem Dorfplatz seine Waren verkauft und die Ausführung der beiden Überlebenden gehört hatte, dies alles wortgetreu in seinem Tagebuch festgehalten hätte.

Jetzt, hier in meinem stillen Zimmer, nachdem all dies aufgeschrieben ist, bin ich mir nicht mehr sicher, woran ich glauben kann und soll. Eines, ja eines steht aber für mich fest. Ich werde nie wieder dorthin zurückkehren. Sollte jemals jemand diese Worte lesen, so rate ich dem- oder derjenigen mit all meinem Herzblut davon ab, selbst Nachforschungen in dieser Sache anzustellen. Ich habe dies alles nur aufgeschrieben, um meine Erlebnisse zu verarbeiten, um irgendwie damit fertig zu werden.

 

 

Die schwarze Schlucht (Teil 2/3)

Die Bäume gaben ein Fenster frei, durch welches ich in die Ebene hinter mir blicken konnte. Erfreut ließ ich meine Augen schweifen. Das Städtchen war von hier aus nicht mehr als ein braunroter Schmutzfleck im hellen Grün seines Umlandes. Die Pyrenäen am Horizont machten den Eindruck, als hätte ihnen jemand einen silbernen Pelz über ihre dunkelblauen Leiber gelegt. Ich hielt inne und zog meine Verpflegung aus dem Rucksack, zwei Butterbrote mit Schinken belegt, einige Cocktailtomaten, drei Müsliriegel. Dazu trank ich etwas Hahnwasser aus einer Plastikflasche. Es roch und schmeckte zwar streng nach Chlor, aber ich war zu faul und zu geizig gewesen, um vor dieser Tour noch extra Wasser einzukaufen. An den Schläfen lief mir der Schweiß herunter, tropfte vom Kinn auf den Waldboden. Das viele Sitzen, das Rauchen und die gelegentlichen Saufereien rächten sich nun. Aber Gift gehörte eben zum Job dazu. Ich als Schreibender nahm es damals in vielerlei Formen zu mir und produzierte es leider oft gleichermaßen. Gedrucktes Gift, Gift im Glas, Gift in der Lunge, überall Gift. Giftige Menschen mit giftigen Gedanken, die einem jedes geschriebene Wort wie giftige Hyänen zerreißen.

Ich war ziemlich außer Puste und nahm bereits an den Fußsohlen ein Blasen ankündigendes Druckgefühl wahr, jedoch war mein Entdeckerhunger noch nicht gestillt und ich wollte unbedingt erfahren, was auf der anderen Seite dieses Hügels lag.
„Zudem geht es ja nur bergab“- redete ich es mir ein.
Wäre ich doch bloß zurückgegangen.
Stattdessen machte ich mich nach dem Vesper an den Abstieg ins Unbekannte und blieb dabei weiter stets auf dem Pfad, der stellenweise keinen Fuß mehr in der Breite maß und in den überall garstiges Grün hineinragte, das an mir zerrte und kratzte, mich nicht weiterlassen wollte. Der Abstieg war eine Tortur. Zwar wurde der Pfad wieder breiter je tiefer ich abstieg, allerdings bewirkten Steigung, Felsen, Schlamm und widerspenstiges Gesträuch in ihrem Zusammenspiel, dass ich schon nach kurzer Zeit meine Entscheidung bereute.

Meine sandfarbenen Shorts wurden an einigen Stellen aufgerissen und meine Beine total verkratzt. Auch das Hemd erlitt Qualen, in Form eines großen Loches, durch welches ich meinen Daumen stecken konnte und einer der silbernen Knöpfe vom Bauchansatz liegt wohl noch immer dort irgendwo im Wald herum. Derweil zogen Regenwolken auf und brachten einen Schauer mit, den das Walddach jedoch fast komplett aufnahm, wodurch mich nur ein müder Niesel erreichte, der kaum eine Abkühlung bewirkte. Eine Amsel hüpfte in den Bäumen über mir herum, schien mich zu verfolgen, mich auszulachen:
„Schau dich an, du zerzauste, abgekämpfte Gestalt. Was machst du denn überhaupt hier? Du hast hier nichts zu suchen, das ist mein Reich!“, oder etwas Ähnliches, schien sie zu meckern.

Dann, nach einer Rechtskurve; vorbei an einem schwarzwässrigen Teich über dem ein großer Mückenschwarm schwirrte, hörte ich das beständige Rauschen eines Flusses. Mit jedem Schritt den ich machte, wurde es lauter. Das Rauschen schwoll zu einem Dröhnen an und in mir spürte ich bereits die Vibration jenes mächtigen Gewässers, dieses von den heutigen Regenfällen und den Regenfällen der letzten Woche gespeiste Ungetüm. Und so gelangte ich zu der Schlucht. Dort, keine zwanzig Meter vor meinen Füßen, hatte sich das Wasser über Jahrtausende durch das harte, schwarze Gestein gefressen und einen schauderhaften Abgrund entstehen lassen, der den Wald wie ein Messer zerteilte. Die schlammbraune Flut brodelte und schäumte, spritzte wütend an den glatten, senkrechten Wänden empor, die algengrün schimmerten. Die Erde vibrierte so sehr, dass überall auf dem Boden kleine Steinchen wie auf einem Trampolin umherhüpften. Das Krachen von großen Steinbrocken die in dem tobenden Strom aufeinanderprallten und zerbarsten, klang wie Donnergrollen. Fasziniert starrte ich auf dieses Naturschauspiel, war begeistert von der Urkraft, mit der das Wasser voranpreschte. Deswegen fiel mir auch nicht sofort die große Holzbrücke auf, welche zu meiner Rechten über die Schlucht führte. Ansonsten gab es weit und breit keine andere Überquerungsmöglichkeit, nur hoffnungslos steile Felswände, die selbst einen gut ausgerüsteten Kletterveteranen vor eine gewaltige Aufgabe gestellt hätten.

In der Nähe der Brücke wuchs außer kränklich gelbem Gras nichts. Auch die Bäume schienen von dem in die Jahre gekommenen Bauwerk Abstand zu nehmen. Als ich den ersten Fuß auf das Holz setzte, zog mir ein eisiger Hauch das Rückgrat hinauf und ich fühlte mich sehr unwohl. Die Brücke war wohl früher eine recht stabile Konstruktion gewesen. Früher. Zwei dicke Pfeiler steckten auf beiden Seiten in einem mürbe erscheinenden Fundament aus Beton, dazu fanden noch einige Stützen in den Felswänden Halt. Aber die ständige Feuchtigkeit und die scharfen Winde welche die Schlucht hinauf- und hinunterjagten, hatten dem Material sehr zugesetzt. Beim näheren Hinsehen erkannte ich, dass das Holz die Farbe von Asche angenommen hatte. Weiterhin waren zahlreiche, beunruhigende Risse an den Pfeilerfundamenten zu sehen. Die Brücke besaß ein dreistrebiges Geländer, jedoch traute ich diesem nicht im Geringsten. Eine seltsame Schwäche, eine schleichende Müdigkeit, kroch durch meine Glieder, je länger ich auf der Brücke verweilte und auch mein Geist fühlte sich attackiert, denn mir war, als würde sich ein dunkler Schleier auf meine Gedanken legen, der alles Schöne und Gute verdrängen und stattdessen mit Finsternis füllen wollte. Irgendetwas stimmte überhaupt nicht. Ich wollte so schnell wie möglich hier weg, die Brücke überqueren und hinter mir lassen, weit hinter mir. Daher lief ich flott, fast joggend über die sehr feuchten und sehr rutschigen Bretter. Zum Glück fiel ich nicht hin. Auf der anderen Seite angelangt, schüttelte ich einen unbestimmbaren Ekel von mir ab. Auch auf dieser Seite schien sich der Wald nicht an die Brücke heranzuwagen. Wieder nur welkes Gras, das unter meinen Füßen wie ein Lagerfeuer knisterte.

Irritiert sah ich zurück und konnte mir nichts aus den Gefühlen machen, die mich so plötzlich übermannt hatten und mir jetzt wieder so fern erschienen. Ich wollte gerade weiter, als mich überraschenderweise eine helle Stimme rief. Auf dem dunklen Rumpf eines umgestürzten Baumes, nahe dem wiederbeginnenden Wald, saß eine junge Frau. Mit federgleicher Leichtigkeit sprang sie von dem Stumpf und kam auf mich zu. Sie hatte ein mattweißes Kleid mit aufgestickten Blumenornamenten an, roter Mohn neben Kornblumen, und dunkelbraunes Haar, dem die schwindende Sonne einen Goldhauch verlieh. Zu meiner Verwunderung trug sie kein festes Schuhwerk, nur leichte Sandalen. Sie war völlig durchnässt, was mich aufgrund des zuvorigen Regens nicht weiter verwunderte, jedoch haftete ihr ein recht eigentümlicher Geruch an. Er weckte Erinnerungen, schwebte mild und süß um sie herum. Sie begrüßte mich fröhlich und stellte sich mir als Camille vor. Camille fragte mich, ob ich ihr eine Zigarette hätte, was ich leider verneinen musste. Ich hielt ihr stattdessen einen Nikotinkaugummi hin. Irritiert sah sie ihn an und lehnte dankend ab. Ihre kleinen Brüste schienen leicht durch das nasse Kleid durch. Um den Hals herum hatte sie einen roten Abdruck, den ich als eine allergische Reaktion auf das Metall einer Kette abtat. Etwas, was ich ein paar Jahre am eigenen Leib erfahren hatte und weswegen ich bis heute jeglichen Metallschmuck strengstens meide. Ich fragte sie, was sie hier draußen mache, so ganz alleine, mitten im Nichts. Sie gab die Frage mit einem Lächeln zurück. Ich schmunzelte und hakte nicht weiter nach. Klar, einerseits wollte ich mir nach dem Essen die Beine vertreten, aber dazu hätte ein kleiner Spaziergang ausgereicht, keine ausgedehnte Wander- und Klettertour, wie ich sie nun hinter mir hatte.

Die Sonne brannte eifrig und verwandelte nun sämtliche Feuchtigkeit des Waldes in einen Nebel, den der Wind von den umliegenden Hügelspitzen hinab in unsere Richtung zu treiben schien und welcher uns beide wohl bald verschlucken würde. Ich war froh, dass mir dieser Dunst den Abstieg nicht zusätzlich erschwert hatte. Allzulange durften wir hier nicht mehr verweilen, denn ich hatte keine Lust von diesem milchigen Hauch eingeholt zu werden. Mir fielen zahlreiche Dinge ein, die angenehmer waren als sich hier draußen im Nebel zu verwirren und mit etwas Pech eine Nacht im Wald verbringen zu müssen. Camille schien daran keine Gedanken zu verschwenden. Sie lenkte  stattdessen unser Gespräch auf das Städtchen und erkundigte sich über die neuesten Geschehnisse. Während wir redeten, sah sie immer wieder an mir vorbei, sah zur Brücke.

Seltsamerweise war sie schon seit längerer Zeit nicht mehr in dem Städtchen gewesen, was mich stutzig machte, und hatte so manches Ereignis, wie etwa die Einweihung des renovierten Rathauses und das Sommerfest verpasst, bei dem Alt und Jung auf den Straßen umherzogen, tranken, lachten und tanzten, bis die Sonne über den Horizont stieg. Anscheinend gefiel ihr dieser Teil meiner Ausführungen nicht und ihr Gesicht nahm traurige Züge an, weswegen ich das Thema wechselte. Ich erzählte ihr daher von dem neuen Bürgermeister, ein kränklich dünner Mann mit scharfem Kinn, welcher Veränderungen nicht mochte und wohl auch deshalb in sein Amt gewählt worden war. Plötzlich unterbrach sie mich mitten im Satz und sagte leise:
„Es wird Zeit. Ich muss gehen.“

Mit einer hastigen Verbeugung verabschiedete sie sich und lief los. Ich war irritiert von diesem unerwarteten Gesprächsabbruch. Stirnrunzelnd stand ich da und sah dabei zu, wie sie zurück zur Brücke lief, die der Nebel bereits eingedickt hatte. Zuerst dachte ich mir nichts dabei und setzte meinen Rückweg fort. Aber dann, als die ersten Schatten der Bäume auf meine Schultern fielen, stoppte ich.
„Wieso geht sie da lang?“, kam es mir.
Es ergab keinen Sinn. Ich rief ich ihr hinterher, dass dies der falsche Weg sei und die Zivilisation in meiner Richtung läge, doch sie schien mich entweder nicht zu hören, oder zu ignorieren. Ich sah, wie sie die Brücke betrat und vom Nebel umschlungen wurde. Schon bald würde die Sonne hinter den Hügeln versinken und mit ihrem Untergang die Kälte kommen. Sie war ganz alleine hier draußen, dünn gekleidet, nass und schutzlos. Auch wenn dies vielleicht jetzt kitschig klingen mag, aber ich konnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, sie hier so zurückzulassen. Der sonst oft ziemlich manierlose Ritter in mir schritt zur Tat. Ich fühlte mich jedoch überhaupt nicht ritterlich, eher schwach und müde. Trotzdem lief ich zurück zur Brücke, mitten hinein in die dicke, fahlweiße Nebelsuppe.

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Fortsetzung folgt