Das Märchen vom Prinzen, der nicht lieben durfte

Es war einmal ein junger Prinz, der lebte in einem großen Schloss. Sein Vater war der König und seine Mutter die Königin des Landes. Er hatte zwei Geschwister. Einen jüngeren Bruder sowie eine ältere Schwester. Der Königsfamilie waren viele Diener und Dienerinnen unterstellt, die sich um deren Wohl sorgten. Sie kochten, hielten die Gemächer sauber und warm, kümmerten sich um die Erziehung und Bildung des königlichen Nachwuchses und, und, und. Es gab wirklich viel zu tun, aber die meisten machten ihre Arbeiten gerne, denn die Königsfamilie behandelte sie gut.

Der König war gerecht und klug, geduldig und verstehend, jedoch gab es eine Sache, die ihn wirklich fürchterliche aufregte. Sein ältester Sohn, der Prinz, sein zukünftiger Nachfolger, hatte sich nämlich in eine Dienerin verliebt. Eine Dienerin! An sich war dies nichts Außergewöhnliches, nein im Gegenteil, Romanzen zwischen Adeligen und Niedergeborenen waren zwar unerwünscht, aber dann doch sehr üblich. Man kann sich eben nicht aussuchen, wen man liebt. Was den König an dieser Liebe so verstimmte, war, dass die Dienerin, in welche sein Sohn sich verliebt hatte, erheblich älter als dieser war. Sie war so alt wie der König selbst, erwachsen, schon ein paar Lachfalten an den Wangen, in den Augen des Königs nicht eines Prinzen würdig. Es war eine ungewöhnliche Liebe, aber dafür eine ausdauernde. Schon damals, als der Prinz erst acht Jahre alt war, hatte er laut verkündet:
 „Ihr gehört mein Herz, ihr alleine. Jetzt und für immer!“
Der König und die Königin hatten gedacht, dass es sich hierbei nur um eine kindliche Liebe handelte, aber da lagen sie falsch. Über die Jahre hinweg liebte der Prinz seine Dienerin nur noch mehr und als dieser schließlich zu einem jungen Mann herangereift war und sie erkannte, dass er es wirklich ernst meinte, erwiderte sie schließlich seine Liebe. So sah man das Pärchen gelegentlich in der Taverne eines schlossnahen Städtchens essen, trinken, lachen und Zärtlichkeiten austauschen. Anfangs waren die Leute gehässig und verspotteten hinter verschlossener Tür den Prinzen und seine ältere Begleitung, jedoch war es irgendwann derart üblich geworden die beiden Liebenden so zu sehen, dass sich niemand mehr daran belustigte. Das Herz des jungen Prinzen ließ ohnehin keine Zweifel zu. Sie war es, die er an seiner Seite wissen wollte, jetzt und für immer. Jedes Mal, wenn er etwas Luft zwischen seinen prinzlichen Verpflichtungen hatte, besuchte er sie in den Dienerquartieren oder bei ihrer Arbeit. Das Leben eines Prinzen war nämlich anstrengender, als mancher es glauben wollte. Nichts mit ausschlafen, den Tag über bei reichlich Essen, faulenzen, umschwärmt von hübschen Damen, nein. Der Prinz musste stattdessen das Reiten lernen, das Schreiben und Rechnen, fremde Sprachen, den Umgang mit hohen Adeligen sowie deren, oft schlecht erzogenem, Nachwuchs, den Umgang mit dem einfachen Volk, den Schwertkampf, das Bogenschießen, die Grundlagen der Innen- und Außenpolitik und noch vieles, vieles mehr.

Dem König und seiner Königin gefiel diese Liebe überhaupt nicht, nicht ein bisschen.
„Die ist doch viel zu alt für ihn, das ziemt sich nicht!“, hörte man die Königin immer wieder verzweifelt rufen, oder Dinge wie:
„Junge Prinzen heiraten irgendwann schöne und junge Prinzessinnen, keine alten Dienerinnen aus dem einfachen Volk! Hat er Pöbel im Blut, fehlt dem Adel der Mut, das sagten schon meine Großeltern.“
Aber beide wussten, dass ihr Sohn niemals seiner Liebe entsagen würde, zumindest nicht freiwillig. Daher schickte der König eines Tages seinen Sohn auf die Burg eines befreundeten Königs, der ein Nachbarland regierte, in der Hoffnung, dass sein Spross dort einen Herzenswandel durchmachen würde und vielleicht sogar Interesse an dessen wunderhübschen Tochter, Prinzessin Fingolfine, finden könnte. Doch dem war nicht so, ganz im Gegenteil. Der junge Prinz sehnte sich in all der Zeit fürchterlich nach seiner Dienerin und seinem Schloss. Alles andere interessierte ihn nicht und als er nach einem Jahr zurückkehrte, war seine Liebe nur gewachsen.

Weitere Jahre vergingen und der Prinz wuchs zu einem ansehnlichen Mann heran. Weit bis über die Grenzen des Landes war er für seine Schönheit, seine Stärke und sein Kampfgeschick, seine Güte und seine Klugheit bekannt. Allen Widerständen zum Trotz, blieb er weiterhin an der Seite seiner geliebten Dienerin. Doch der König und die Königin hatten schließlich genug. Sie konnten es nicht mehr ertragen und arrangierten eine Heirat mit Prinzessin Fingolfine aus dem benachbarten Land, welches der Prinz einst besucht hatte. Als sie ihrem Sohn dies mitteilten, wurde er sehr wütend und wollte die Heirat nicht akzeptieren. Er protestierte, prallte aber mit all seinen Beschwerden völlig an seinen Eltern ab, die kein Nein mehr akzeptierten. Die Hochzeit würde stattfinden, mit oder ohne seine Zustimmung. So war es Brauch.

Die Dienerin seufzte, als ihr der Prinz davon erzählte und sagte nur niedergeschlagen:
„Es musste leider so kommen, mein geliebter Prinz, die Welt ist noch nicht bereit für eine Liebe wie die unsere.“
Der Klang ihrer Stimme und ihr trauriges Gesicht brachen ihm das Herz.
„Ich werde einen Weg finden, wie wir zusammen sein können. Das verspreche ich dir!“, sagte er entschlossen. Gleich danach rannte er in die Burgbibliothek und versuchte eine Möglichkeit zu finden, wie er mit seiner Liebe zusammenleben konnte. Tagelang vergrub er sich in vielen, staubigen Büchern, Schriftrollen und losen Blättern. Seine Augen schmerzten schon vom vielen Lesen, als er schließlich unter einem großen Stapel Bücher ein paar zusammengebundene, vergilbte Seiten Papier entdeckte. Er begann zu lesen und als er so durch die Seiten flog, begann er unruhig zu werden. Er hatte vielleicht einen Weg gefunden. Von einer schwarzen, blätterlosen Eiche, die auf einem großen, von Donnerstürmen umgebenen Berg stand, war dort die Rede. In dieser Eiche lebte anscheinend ein Wesen von großer Macht, welches all jenen einen Wunsch erfüllt, die es erreichen. Der Prinz glaubte nicht an Märchen und Magie, an Geister und Elfen. Alles Geschichten, die ihm seine Großmutter einst erzählt hatte. Aber was, wenn in all diesen Geschichten doch stets ein Funken Wahrheit steckte? Mehr als darauf hoffen, konnte er in seiner jetzigen Situation nicht.

„Der Donnerberg“, flüsterte der Prinz. Das war nicht gut. Der Donnerberg war ein riesiger, pechschwarzer Berg, der sich weit im Osten des Kontinents im Königreich Tempestum befand. Schreckliche Stürme wüteten an dem Berg und in seinem Umland, Blitze zerfetzten die Luft in Stücke und jeder, der es je gewagt hatte einen Besteigungsversuch zu wagen, hatte mit seinem Leben dafür bezahlen müssen. Dies waren die Geschichten, welche über den Berg erzählt wurden und die den Prinzen kalt erschaudern ließen. Wer diese Seiten verfasst hatte, konnte man nicht mehr erkennen, aber der- oder diejenige musste die Spitze des Berges erklommen haben, stellte der Prinz fest. Wie sonst hätte diese Person von einer schwarzen Eiche auf der Spitze des Berges erzählen können?
„Es ist also möglich“, ermutigte sich der Prinz.
Aber er zweifelte noch. Was, wenn dies alles nur eine Geschichte aus der Feder eines phantasiereichen Geschichtenerzählers war? Dann würde er sämtliche Mühen umsonst auf sich genommen haben, völlig erschöpft auf der Spitze des Donnerberges stehen und dort nur verbranntes Felsgestein und den Tod vorfinden. Der Prinz fasste sich an die Brust, an sein Herz und sah vor sich das Gesicht seiner Geliebten, die ihn sanft anlächelte. Und da verpufften alle Zweifel in ihm und er beschloss, das Risiko auf sich zu nehmen.

Über Wochen hinweg bereitete er sich auf seine große Reise vor, die ihn in entfernte Länder, durch Wüsten und Dschungel, über Berge und durch tiefe Täler führen sollte. Er verbrachte auch viel Zeit damit, alles über den Donnerberg herauszufinden, aber nur in wenigen Büchern fand dieser überhaupt eine Erwähnung. Es schien, dass selbst die tapfersten Abenteurer bei der bloßen Nennung dieses Namens allen Mut fallengelassen hatten. Aber der Prinz gab nicht auf. Seine Liebe war stärker als die Furcht. So kam es, dass er an einem verregneten Abend in das Gemach seiner Geliebten schlich und ihr von seinen Plänen berichtete. Oh, wie sich ihre Augen weiteten und ihr Herz wummerte, als sie davon hörte. Unter Tränen fiel sie ihm um den Hals und flehte ihn an, dass er doch hier bei ihr bleiben solle.
„Das geht nicht und wenn, dann ist es nicht von Dauer. Mein Vater, meine Mutter…sie lassen es nicht mehr zu“, sagte er und wischte ihr eine Träne von der Wange, strich ihr durch das graue Haar. Er fand sie wunderschön. Sie erkannte, dass er entschlossen war und so liebten sie sich noch ein letztes Mal, bevor er aufbrach. Am Morgen danach, noch bevor die Sonne über dem Horizont aufging und der erste Hahn krähte, schlich sich der Prinz mit einem großen Rucksack durch die Kanalisation der Burg davon und trat seine lange, lange Reise an.

Er vermied es in Städten zu rasten, um nicht so viel Aufmerksamkeit zu erregen und im schlimmsten Falle sogar erkannt zu werden, ging abseits der Wege und schlief in einem kleinen Zelt aus zusammengenähten Kuhhäuten, das er mit sich führte. Schon wenige Tage nachdem seine Abwesenheit bemerkt worden war, wurde im gesamten Land eifrig nach ihm gesucht. Daher trug er einen großen Kapuzenmantel, wusch sich nicht und schnitt sich nicht mehr den Bart ab, alles um bloß nicht erkannt zu werden. Mit etwas Glück und viel Grips schaffte es so der Prinz aus seinem Heimatland heraus. Ab der Grenze wurde es viel einfacher für ihn, da dort, abgesehen von einigen Adeligen und deren Dienerschaft, die Leute sein Gesicht nicht kannten. Er hielt sich stets fern von Festen und größeren Menschenansammlungen, um nicht Gefahr laufen zu müssen, dass ihn jemand dort entdecken könnte. Er machte nur an einem Ort Halt, wenn er neuen Proviant brauchte. Gelegentlich konnte er auf der Ladefläche eines Pferdewagens mitfahren, wenn ein Bauer ihm dies anbot. Nicht nur einmal musste er während all dem sein Kampfgeschick und seinen Mut beweisen, denn auf einen einsamen Reisenden lauerten damals zahlreiche Gefahren. Räuber, wilde Tiere und das Wetter, waren nur einige seiner Feinde.

Schließlich, nach vielen kleinen Abenteuern, von denen ich dir irgendwann einmal auch noch erzählen werde, erreichte der Prinz die ersten Ausläufer des Donnerberges. Der Himmel verdunkelte sich, je näher er diesem wolkenumtosten, dunklen Ungetüm kam. Ein mulmiges Gefühl legte sich ihm wie ein schwerer Stein in den Bauch, als er auf die blitzespuckenden Wolken blickte. Die Erde um ihn herum war schwarz und überall ragten verkohlte Stümpfe von kleinen Bäumen, die es vor langer Zeit gewagt hatten hier zu wachsen, aus dem Boden. Die Luft war erfüllt vom Donnergrollen und der Geschmack von Asche lag dem Prinzen wie ein bitterer Pelz auf der Zunge. Sein Herz trommelte, sein Blut rauschte durch seine Adern. Tief in ihm regte sich etwas. Keine Angst, nein, ganz im Gegenteil. Der Gedanke an den vor ihm liegenden Aufstieg erweckte etwas Tierisches, Primitives in ihm. Den Willen zu überleben, die Grenzen des Möglichen zu überwinden. Ein altes Lied, dass immer in der Kriegshalle seiner Burg vor einer großen Schlacht angestimmt wurde, verlies als Flüstern seine Lippen.

Er legte alles ab, was er nicht für den Aufstieg brauchte und verstaute es unter einigen großen Steinen, die er zu einem runden Haufen auftürmte. Bei jedem Schritt wirbelte er kleine Aschewolken auf. Er nahm nur seinen Wanderstock, etwas Wasser sowie hartes, getrocknetes Brot mit. Seinen Kapuzenmantel ließ er ebenfalls zurück, den dieser war schwer und warm. Sein Schwert ließ er zurück, denn es war zwar scharf, aber aus Metall und Blitze lieben bekanntlich Metall. Noch ein letztes Mal sah er zurück, sah die grünen Hügel in der Ferne, aus der gekommen war. Er sah eine dünne, blaue Linie, der Fluss Rhon, den er auf einem Floß hatte überqueren müssen und einen braunen Fleck, ein kleines Dorf, dass von den Neugierigen lebte, die den Donnerberg einmal aus sicherer Nähe sehen wollten. Dann drehte er sich um, trommelte sich zur Ermutigung fest auf die Brust und begann den Aufstieg. Wie eine Bergziege sprang er den Hang empor, nutzte die Kraft seiner Beine, zog sich an Überhängen hinauf, nutzte die Kraft seiner Arme. Er kam schnell voran, doch jedes Mal, wenn er glaubte dem Gipfel ein Stück nähergekommen zu sein, schien dieser sich weiter vor ihm in die Höhe zu ziehen. Der Blitze wurden es währenddessen immer mehr und die Sonne versteckte sich irgendwo hinter den dunklen Wolken. Nur wenn die Blitze leuchteten, sah er etwas und konnte weiterklettern. Ihr Donner ließ ihn und die Erde erzittern. Kleine Gesteinsbrocken und Asche rieselten stetig auf ihn herab. Allmählich, nach einigen Stunden guten Vorankommens wurde der Prinz langsamer. Hier, weit oben am Hang, dort wo es immer dunkel und gewittrig war, wo Tag und Nacht eins sind, verlor er jedes Zeitgefühl und bereute seine Entscheidung, an diesen Ort gekommen zu sein. In einer kleinen Einbuchtung im Berghang kauerte er sich zusammen und hielt sich die Ohren zu.
„Lass mich in Ruhe!“, brüllte er dem Donner zu, doch dieser interessierte sich keinen Deut um das verzweifelte Flehen des verängstigten Prinzen und grollte munter weiter.
„Hier geht es mit mir zu Ende“, dachte der Prinz und weinte. Wie ein Fluss in der Wüste, rollten ihm die Tränen über die verschmutzten Wangen. Doch dann, im größten Moment seiner Verzweiflung, als er sich schon fast in die Tiefe, aus der er gekommen war, stürzen wollte, sah er ein Gesicht vor sich. Sie, seine Geliebte, seine wahre Liebe. Sie war es gewesen, weshalb er so weit gekommen war, weshalb er all diese Mühen auf sich genommen hatte. Neuer Mut und neue Kraft durchströmten ihn und trieben ihn an. Er raffte sich auf, schüttelte die Erde und die Asche von sich. Steil und glatt war das Gestein, heiß und verdorben die Luft, verpestet von tausend Feuern, die um ihn herum brannten. Überall spalteten Blitze die Welt, den Himmel, die Zeit selbst. Der Prinz sang laut das Kriegslied seiner Ahnen und blickte nicht zurück. In ihm brannte trotzig die Flamme des Mutes und der Liebe hell wie die Sonne.

Nach endlosen mühevollen Stunden, vielleicht Tagen erreichte der junge Prinz schließlich die Spitze des Donnerberges, das Ziel seiner langen Reise. Ganz plötzlich, über einem großen Felsbrocken, den er emporklettern musste, zeigte sie sich ihm. Groß wie ein Gerstenfeld, eröffnete sich ihm eine völlig ebene Fläche. Kein Blitz stahl sich hier aus den Wolken, als ob sie es nicht wagen würden, den Boden zu berühren. Der junge Prinz erstarrte und begann dann Tränen der Freude zu vergießen. Denn in der Mitte dieser seltsamen Ebene, stand tatsächlich ein riesiger, pechschwarzer Baum. Die blätterlose Eiche aus den Legenden, von der er in den uralten Schriften gelesen hatte. Vorsichtig trat er an sie heran und staunte, denn ihre Rinde war glatt wie geschliffenes Glas und sehr kalt, als er sie berührte. Der Prinz umkreiste den dicken Stamm und siehe da, auf einer Seite fand er einige Wurzeln, die wie riesige Schlangen aus dem Boden ragten und den Eingang einer dunklen Höhle umrahmten. Vorsichtig ging er darauf zu, denn er hatte Angst, dass irgendetwas plötzlich aus ihr hervorspringen und ihn angreifen könnte, aber nichts dergleichen geschah. Er trat ein und die Dunkelheit umschloss ihn sogleich. Er sah zuerst nichts und tastete sich blind an der Wand entlang. Es ging langsam abwärts und je weiter er in den dunklen Schlund stieg, desto heller wurde es in der Höhle. Feine, rote Linien entsprangen dem Felsgestein. Sie pulsierten und mit jedem Leuchten konnte der Prinz ein paar Schritte vorankommen, hinein in den Bauch des Berges. Schließlich, umgeben vom roten, pulsierenden Licht, gelangte der junge Prinz an ein silberfarbenes Gebilde, das den gesamten Tunnel vor ihm ausfüllte. Verblüfft starrte der Prinz auf dieses eigenartige Hindernis. Eine silbrige Flüssigkeit waberte in feinen Wellen umher, schwappte an den Rändern wie an einem Strand empor und zog sich dann wieder langsam zurück.
„Was nun?“, fragte sich der Prinz und zupfte nachdenklich an seinem Bart. Vorsichtig trat er an das wabernde Silber heran. Er streckte seine Hand aus und in genau in dem Moment, als er es berührte, umschlang es blitzschnell seinen Arm und er wurde mit der Kraft von zehn Riesen in es hineingezogen. Perfektes Nichts umgab ihn. Keine Dunkelheit, kein Licht, er schwebte im Dazwischen. Ein mystischer Ort, fern aller uns bekannten Welten. Und von dort, der Geburtsstätte der Magie, des Lebens und der Zeit, sprach eine tiefe Stimme klar und deutlich zu ihm:
„Was ist es, das du suchst? Hier, am Ende und am Anfang. Sprich einen Wunsch aus und er möge in Erfüllung gehen. Doch wähle weise, denn jeder Wunsch hat seinen Preis. Nichts ist ohne Folge.“
Der Prinz, dessen Augen Dinge sahen, die er nicht zu verstehen in der Lage war, antwortete aus seinem Herzen heraus:
„Meine Liebe und ich möchten zusammen sein, Seite an Seite das Leben genießen. Die Welt verbietet uns jedoch zu sein, wie wir sind und ich suche einen Weg, wie wir zu unserem Glück finden können. Dafür bin ich gekommen, dies ist mein Wunsch. Ich möchte zusammen sein können mit der Frau, der mein Herz gehört.“
„So ist es und so soll es sein. Möget ihr zu Glück gelangen.“
Der Prinz wurde müde, so müde, wie er es noch nie zuvor gewesen war. Er wendete seinen Blick ab von den Wundern, rollte sich zu einer Kugel zusammen und schlief ein. All seine Leiden wurden im Schlummer von ihm genommen und als er erwachte, fand er sich unter einer großen, alten Eiche wieder, die vor saftig grünem Laub nur so strotzte. Er stand auf und sah sich verwundert um. Überall Bäume und hoch wucherndes Dickicht. Der Himmel, sofern er ihn durch das Blätterdach erkennen konnte, war blau und von einzelnen Wolkenschiffen befahren. Das Plätschern eines Baches drang zwischen den Stämmen hervor und der Prinz stellte fest, dass er sehr durstig war. Gierig trank er aus dem kühlen Nass und als er sich etwas Wasser ins Gesicht schütten wollte, um sich zu waschen, zuckte er vor Schreck zurück. Seine Hände waren faltig, wie vertrocknet und seine Haut am Handrücken von Flecken übersäht. Als er erkannte, was da mit ihm geschehen war, musste er laut lachen. Er war gealtert, um einige Jahrzehnte und niemand, der ihn je gekannt hatte, würde ihn so wiedererkennen. So konnte er wahrhaftig mit seiner Geliebten zusammen sein. Sein Wunsch war in Erfüllung getreten und er hatte dessen Preis bezahlt.

Niemand erkannte den alten Prinzen, als dieser durch die Länder streifte und zu seinem Königreich zurückkehrte. Niemand erkannte ihn, als er sich auf der Burg als Diener vorstellte und um eine Anstellung bat, die ihm auch gewährt wurde. Des Prinzen Herz bebte, als er schließlich die Tür zur Kammer seiner geliebten Dienerin aufstieß, die an einem Tisch saß und nähte. Sie sah ihn verwundert an, fragte ihn, wie sie ihm behilflich sein könnte, aber kein Wort kam ihm über die Lippen. Sie stand auf und trat näher an ihn heran. Da erkannte sie den Prinzen an seinen Augen, die noch so wild und verliebt wie früher waren. Sie knickte ein, weinte und weinte, während er sie festhielt und mit sanften Küssen benetzte. Und so lebten der Prinz und seine Dienerin von da an glücklich zusammen als Paar am königlichen Hofe. Die Liebe hielt sie beide jung und so verbrachten sie noch viele, viele wundervolle Jahre in Zweisamkeit.

Woran das Herz hängt

Der kleine Garten vor dem Haus ist perfekt,

unkrautfrei, eine blühende Pracht,

denn ihre Tochter war am Vortag da,

rief an und kam vorbei,

um einen Karton mitzunehmen,

in dem noch etwas Kindheit steckte,

und tat ihr noch einen Gefallen,

jätete, putzte Fenster und Böden.


Alles strahlt, alles glänzt,

allerschönster Schein,

aber sie braucht das für sich,

wenn sie ein- , zweimal die Woche herkommt,

sich hier eine Auszeit nimmt,

in ihrem alten Zuhause.


Sie steht im Flur,

rückt den Fußabtreter zurecht,

damit das Willkommen lesbar ist,

für die Gäste, die nicht mehr kommen.


Die Tür fällt ins Schloss,

und sofort empfängt sie die Stille,

die Echos der Vergangenheit,

Bilder huschen vorbei,

Kinderstimmen hallen in ihren Ohren,

in ihrer Seele wieder,

die Delle in der Badtür,

der tiefe Kratzer im Wohnzimmertisch,

Lebenszeichen,

hier waren mal Menschen.


Die Wände hoch und kalt und kahl,

in den meisten Zimmern nur noch verstaubtes Gerümpel,

das Haus erdrückt sie,

je länger sie sich darin aufhält,

es nimmt ihr den Atem,

denn die Vergangenheit wiegt schwer,

viele Tränen, viele Schicksalsschläge,

fraß ihre Jugend auf,

und sie fragt sich wofür,

wenn alles was am Ende bleibt,

diese widerliche Stille ist.


Fußbodenheizung, Wintergarten,

schicke Einbauküche und Hochglanzfließen,

die nicht sauberzuhalten sind,

die sie auf Knien geschrubbt hat,

damit ein dreckiger Kinderschuh all die Arbeit zunichtemacht,

zweites Bad mit Jacuzzi,

Kraftraum und Minibar im Keller,

so verdammt vieles,

und es war doch nie genug,

für ihn, für sie,

für ihre drei Kinder,

die sich in der Welt verteilt haben.


Sie schaut in den Garten,

die Beete und die Wiese verwildert,

weil das Rheuma sie plagt,

weil sie keine Kraft und Zeit mehr hat,

für dieses große Haus,

und sie hasst sich dafür,

dass sie es immer noch nicht verkauft hat,

daran hängt, an dieser Vergangenheit,

immer wieder hierher zurückkommt.


Neuer Freund, neues Leben,

wieder Liebe und Harmonie,

aber Zweifel sind da,

und dieses Haus,

mit all seiner Stille,

mit all seinen Lasten,

gibt ihr Sicherheit,

ist ein Teil von ihr,

den sie noch nicht loslassen kann

Damals um halb sechs

Es rattert und klappert,

der Wind reißt an Mänteln und Mützen,

es rattert und klappert,

man sieht Maskengestalten sich davor schützen,

auf dem Bahnsteig liegen noch Flaschen und andere Reste der Nacht,

Obdachlose wie tot auf Bänken in Säcke gehüllt,

von Kameras und Sicherheitsleuten überwacht,

etwas abseits sitze ich und nebendran,

spülen große, grüne Busse an der Straße einsame Reisende an,

sie nehmen ihr Gepäck und zerstreuen sich dann,

so wie einst auch ich,

so wie einst auch du,

damals morgens um halb sechs,

wir lächelten uns schüchtern zu,

doch dann gingst du fort,

und ich ließ es geschehen,

sitze nun hier und warte,

und wünsche mir dich wiederzusehen.

Immer wieder

Die Großväter dienten und fielen,

sind eingekerbt in große Gedenksteine,

Opa Emil mit den Granatsplittern im Kopf,

und dem Hass im Herzen,

wurde rau und kalt,

wie das Wetter an der Front,

gab seinen Hass weiter,

wusste sich nicht zu helfen,

ich will nicht hassen, kämpfen, leiden, sterben,

irgendwo im Nirgendwo,

bluten für 50m Acker,

für Nichts,

für einen Hügel, dem danach ein Name zugesprochen wird,

weil dort Hunderte ihr Leben ließen,

will nicht Fremde auslöschen,

welche ich nicht einmal sehe,

welche Freunde sein könnten,

aber leider auf der anderen Seite der Gräben kauern,

nach ihren Müttern und Göttern schreien,

wenn der Bauchschuss trifft,

wenn die Mörser heulen,

wenn mal wieder ehrenvoll gestorben wird,

mit Pisse und Scheiße in der Hose,

immer wieder und immer wieder,

und der Mensch hört nicht auf,

immer wieder und immer wieder,

lässt er seiner Grobheit freien Lauf

Der Smartphone Krieg

Seit langer Zeit veröffentliche ich mal wieder etwas, denn irgendwie wühlte der Krieg in mir herum und brachte mich dazu den Stift zu ergreifen und zwei Texte zu schreiben. Ich hoffe es geht euch allen soweit gut : )

Der Smartphone Krieg

Ruckelnde Bilder, hektisch gefilmt,

und ab zu Twitter, Facebook, Reddit, Tik Tok,

Jets und Fahrzeugkolonnen im Osten,

Truppenbewegungen in Echtzeit,

in den Nachrichten der milde Krieg,

keine staubigen Leichen unter Trümmern,

keine Körperteile auf dem Boden verteilt,

Aschehaufen in denen Zähne erkennbar sind,

und der Rest der Welt hält derweil den Atem an,

schickt Unterstützung,

und eine Woche später,

sieht man dann das Ergebnis in kurzen Clips,

helle Explosion, „Slawa Ukraini“, und ein Panzer weniger,

kocht aus mit meterhoher Flamme,

und Mütter wissen noch nicht,

dass sie bald um ihre Söhne weinen werden.

Platzlos

Was ist aus dir geworden guter Freund,

was mir gegenübersitzt wirkt so fremd,

Bitterkeit und Schmerz klagen aus deinem Gesicht,

und dein Gang, dein einst stolzer Gang,

ist einem Greis gewichen,

der sich dahinschleppt und hinkt,

vom Leben erdrückt,

an der Gesellschaft zerschollen,

in der du dich nicht mehr findest,

keinen freien Platz mehr verspürst.

Guter Freund, das Schreiben fällt mir schwer,

selbst unter dem endlosen Himmel,

spüre ich eine Enge, die mir den Hals zuschnürt,

die mir das Atmen erschwert,

wie muss es erst dir gehen,

du Leiderfüllter,

den die vergänglichen Freuden des Lebens,

in noch tiefere Löcher reißen,

wenn sie sich erschöpfen,

kein Abend des Lachens und des Zusammenseins,

ohne dass du die Angst verspürst,

vor der Stille und der Einsamkeit danach,

die dich auseinanderreißen wollen,

die wie ein Dolch im Magen,

ein Hocker zum Strick dir sind,

und so wendest du dich ab vom Glück,

Stück für Stück, bis nur noch das Elend bleibt,

dieses teerige, verschlingende Ungetüm,

das dich umgibt und lenkt,

von dem du dich lenken lässt,

denn es ist manchmal leichter nachzugeben,

als zu kämpfen, wenn man keinen Sinn im Sieg sieht,

nur eine Verlängerung des Leidens,

wenn die Endgültigkeit des Todes,

nur noch Erlösung verspricht,

Gott nicht half, an den sich gewendet wurde,

selbst in der Not nicht ansprechbar war,

sich nicht zu erkennen gibt.


Guter Freund, wenn du gehst,

werde ich weinen,

am Grabe stehen,

und Blumen niederlegen,

nicht fragen nach dem „Warum?“,

denn das weiß ich, sondern nur hoffen,

dass du gefunden hast,

was du suchtest, was du ersehntest,

und endlich frei bist,

von deinem Schmerz,

deinen Ketten und betrauern,

dass es am Ende nicht mehr gab,

was dir Hoffnung und Halt versprach,

ich tat, was ich konnte,

musste Distanz wahren,

um nicht von deinem Sog aus Kummer eingesogen zu werden,

was schmerzhaft war und ist,

du gehst in das große Unbekannte,

und alles, was ich mir erhoffe,

ist, dass ein Seelenband besteht,

welches uns verbindet,

und wir uns wiedersehen.


P.S. Mit dem „neuen“ Textsystem von WP komme ich noch nicht ganz klar (Abstände usw.). Verzeiht bitte

Zwischen den Jahren

Auf den Dächern lag der Schnee wie frisch angerührter Zuckerguss, unten auf der Straße blieb schon nichts mehr liegen. Leute liefen mit Schirmen und Mützen vorbei und ihr Gerede hallte durch die Gasse. Er wohnte im zweiten Stock und machte das Fenster wieder zu, bevor es ihn zu frieren begann. Weihnachten war vorbei, das Gefühl noch etwas da, ebenso wie die schön dekorierten Bäume in den Häusern und Städten. Er versuchte einen Radiosender zu finden, aber bekam erst einmal nur Rauschen und Wortfetzen, bis er erfolgreich war, dann aber leider nach „Sweet Dreams“ feststellen musste, dass er doch nur einen französischen Sender erwischt hatte. Die Stimme und Redegeschwindigkeit des Moderators missfielen ihm. Er drehte noch einmal am Rädchen. Nur die Franzosen waren deutlich zu verstehen, die Deutschen hatten anscheinend keine Lust heute in seiner Küche die Nachrichten zu verkünden. Er fand dann doch noch einen Sender, wenn auch etwas verrauscht, aber das nahm er in Kauf. Frühstück oder Mittagessen? Zwanzig vor Eins, Schneematsch auf den Dächern und in seinen Gedanken. Neben ihm stand die Flasche Weißwein von gestern. Er kippte das letzte Viertel weg und machte sich einen Tee. Als dieser fertig war und in seiner Tasse dampfte, sah er draußen zwei Raben auf einer Antenne Gefiederpflege betreiben. Die hatten sicher schon gefrühstückt. Während er sich über die Tasse beugte und einen Schluck schlürfte, hüpften die zwei Vögel von der Antenne auf das steile Dach und tapsten dort herum. Nicht weit von ihnen entfernt stand ein Fenster offen und jemand kam und schüttelte ein Kissen aus und die Raben flogen davon.

„Die Vierschanzentournee ohne Zuschauer ist einfach nicht dasselbe“, beklagte sich jemand im Radio, danach sang Falco seinen Kommissar, während das Fenster drüben geschlossen wurde und bald darauf grauer Rauch aus einem Schornstein quoll. Es war ein Sonntagmittag und er vermied es auf sein Smartphone zu schauen. Morgen würden sie eventuell schon damit beginnen die Weihnachtsbäume zu entfernen. Diese Übergangszeit mochte er nicht und der Gedanke morgen nicht arbeiten zu dürfen, ließ ihn mit gemischten Gefühlen zurück. Als „Here comes the rain again“ von Eurythmics gespielt wurde, wollte er den Sender wechseln, aber bekam wieder nur Rauschen, woraufhin er das Radio dieses Mal ausschaltete. Er kochte sich etwas und als er aß, da war der Schnee schon auf den Dächern geschmolzen. Morgen würde seine Mutter gegen zehn Uhr kurz vorbeikommen und ihm ein großes Paket mit Essen, Hygienesachen und Plätzchen vorbeibringen. Plätzchen, die Quarantäne hatte auch gute Seiten und er freute sich auf die Zimststerne und Vanillekipferl.

Kommen und Gehen

Er war nicht gut im Alleinesein, aber leider auch nicht in Sachen Zweisamkeit. Es war ihm schon immer schwergefallen sich anzupassen. Irgendwie ging es nicht, wollte er nicht. Sie kamen und gingen und wenn sie fort waren, saß er abends lange da und sagte und dachte an nichts, fühlte einen Stich, nie aber ein Loch. Zu seinem Glück oder auch Unglück war er groß und ansehnlich und musste sich nie besonders viel Mühe geben eine neue Freundin zu finden. Ihm lag nicht viel an Dates oder langen, tiefsinnigen Gesprächen, aber vielleicht gerade deswegen zog er das andere Geschlecht so sehr an. Sein Desinteresse war nicht gespielt, vielmehr mit den Jahren ein Teil seines Selbst geworden. Er vermied es am öffentlichen Leben teilzunehmen, am Leben seiner Mädchen ebensowenig und den Dingen, welche ihnen gefielen. Er schrieb unregelmäßig zurück, rief selten an, kommentierte keine Fotos, mischte sich allgemein nirgendwo ein, wollte im Grunde nur in Ruhe gelassen und nicht in Konflikte verwickelt werden. Irgendwann hatten sie es alle satt. Irgendwann kamen die Vorwürfe und das Geschrei, irgendwann stellten sie alle fest, dass er nicht formbar war, sich niemals zu einer ihrer Idealvorstellungen von einem Mann entwickeln würde. Dann gingen sie oder er löste es auf, war am Ende ja auch egal. Der Stich war da, aber nie lange. So langsam wurde er aber müde davon.

Die Spülmaschine pumpte das Wasser ab und stellte dann auf Trocknen um. Als sie fertig war, hörte man ein Klicken, einen kurzen Piepton und ein grünes Lämpchen leuchtete auf. Er freute sich, denn er liebte die Wärme und den Ablick des heißen Wasserdampfes, wenn dieser aus der Maschine quoll und an der Decke umherwaberte.
„Mach das Fenster auf, bevor du die Maschine öffnest, sonst ist nachher alles so feucht“, rief sie aus dem Wohnzimmer. Er betrachtete den Fenstergriff, schaute zur Spülmaschine. Als sie in die Küche trat und ihn mit kindlicher Freude in den Augen dastehen und den Moment genießen sah, war das Fenster geschlossen.

An ferner Front

„Bssss-rrrr-bssss-rrrr-bssss“, machte es, dann herrschte wieder Stille und die Drohne war fort. Schlimmer als jede Stechmücke, dachte Steffen und drehte sich in seinem Feldbett herum. Jede halbe Stunde flog dieses Teil auf seiner Patrouille durch das Camp an Steffens Zelt vorbei. Der Mond war eine gelbe Sichel und eingebettet in einem sternenbehangenen, wolkenlosen Himmel, was Steffen durch einen Luftschlitz sah und wohl schön gefunden hätte, wenn er nicht völlig übermüdet gewesen wäre und einfach nur einschlafen wollte, was ihm nicht gelang. Es war verflucht kalt geworden in den letzten paar Tagen, so kalt, dass es morgens unter seinen Stiefeln knirschte, wenn er aus dem Zelt trat und zu den Latrinen schlenderte. Kalt und langweilig, anstrengend und langweilig, Wachdienst, warten, warten, warten, Wachdienst, warten, warten, warten, damit konnte man die letzten Monate gut zusammenfassen. Ab und zu eine dumpfe Explosion in der Ferne und dann schwarze Rauchwolken am Horizont, das war mittlerweile Steffens Krieg. Es war ihm lieber so, das Warten und die damit verbundene waren besser als das Sterben in der Zeit, als sie noch fast täglich mit Mörsern, Drohnen und Robotern angegriffen wurden. Jetzt hatte sich der Krieg verlagert und das Chaos und Sterben fand weiter entfernt statt.

Er schloss die Augen und versuchte an etwas Schönes von früher zu denken, nicht nur um endlich einzuschlafen, sondern auch um den Hunger, der wüst in seinen Eingeweiden wühlte, zu verdrängen. Er erinnerte sich daran, wie er und seine Freunde im Sommer als stramme Clique damals auf dem Ascheplatz ihres Dorfes Fußball gespielt hatten. Das laute Klirren, wenn einer von ihnen den Ball neben das Tor geschossen hatte und dieser in den haushohen, stählernen Ballfangzaun krachte. Hinter dem Zaun war ein Parkplatz und dahinter lag das Tennisclubheim mit seinen drei nebeneinanderliegenden Spielfeldern. Einmal hatte Roman Winkel es geschafft den Ball dermaßen über das Tor zu jagen, dass er ihn vom zweiten Tennisfeld hatte holen müssen, während Steffen und die anderen sich vor Lachen auf dem Boden wälzten. Sie spielten, bis der ganze Bereich vor dem Tor mit ihren Schuhabdrücken übersät war und man die mit Kreide aufgetragenen Linien kaum noch sehen konnte. Wenn die Mädchen vom Tennisclub nach dem Spielen auf ihre Fahrräder stiegen und davonfuhren, pfiffen Steffen und die anderen ihnen begeistert nach.

Jetzt lag er hier und ihm war immer noch kalt und er war immer noch hungrig und konnte immer noch nicht schlafen. Irgendwie weigerte sich sein Körper, ihm in dieser Nacht Ruhe zu gewähren. Aufstehen wollte er nicht, denn manche seiner Kameraden hatten einen sehr leichten Schlaf und er wollte sie nicht aufwecken. Je länger sie an der Front waren, desto schreckhafter wurden einige, andere wiederum schliefen fest und gleichgültig und die Tauben sowieso. Die musste man im Alarmfall wachrütteln, sonst rührten sie sich nicht, zumindest solange nicht, bis die ersten Granaten einschlugen und das Camp erschütterten. Der Hunger war unnachgiebig und wühlte weiter und weiter, aber das kannte er schon. Fett macht der Krieg nur die Waffenverkäufer und Lobbyisten.
„Bssss-rrrr-bsss, wiuuuu“, machte es und Steffen horchte auf. Dann explodierte plötzlich alles um ihn herum und der Hunger kümmerte ihn nicht mehr und an Schlaf brauchte er auch nicht mehr zu denken und oben in der Luft über dem Camp, da summte es laut und fleißig, während die Drohnen des Feindes ihre Bomben abwarfen und aus hundert Rohren das Feuer eröffneten.

Ausstieg

„Du nervst mich“, sagte sie, „weißt du das?“
„Nein“, erwiderte er und sah sie nicht an.
Draußen rauschte ein altes, mit Graffitis besprühtes Fabrikgebäude vorbei.
„Hörst du? Du nervst mich“, sagte sie wieder und kratzte mit den Fingernägeln so fest auf ihrer schwarzen Ledertasche herum, dass es helle Spuren hinterließ.
„Ja, ich weiß“, entgegnete er.
„Und?“
„Wird Reden es besser machen?“
„Nein, ich denke nicht.“
Sie schwiegen sich an und blickten beide aus dem Fenster. Der Zug kletterte einen kleinen Hügel hinauf und sie konnten am Hang unter ihnen herbstbunte Reben sehen, zwischen denen hier und da jemand einer Arbeit nachging.
Sie brach zuerst die Stille.
„Das ist es also“, stellte sie fest.
Er sah immer noch raus, richtete seinen Blick in den Himmel, in die Wolken und antwortete nicht, aber sie erwartete auch keine Antwort mehr.
Sie fuhren ratternd über eine Brücke, unter der eine Straße verlief.
Kaum Verkehr, weil Dienstagmittag, angenehm warmes Abteil, keine Fahrscheinkontrolle und eindeutig zu viel Nüchternheit während der zwei Stunden Zugfahrt, zu viel Zeit zum Nachdenken, für Zweifel, viel zu viel, wenn man so zusammen reist, ging es ihm durch den Kopf. Sie saß da und sah ihn an, ganz genau, wie eine Malerin, die ein Porträt beginnen wollte.
Noch zwei Stationen, ein paar Minuten vor der Endgültigkeit.
„Es war schön, solange es schön war“, sagte sie noch, bevor sie sich von ihrem Platz erhob. Sie gaben sich eine letzte lange Umarmung und beiden war unwohl dabei, beide warteten darauf, dass der andere zuerst losließ.
„Ja, es war schön“, sagte er ihr ins Ohr, drückte sie noch einmal fester an sich und gab sie dann frei. Es piepte laut, bevor der Türknopf Grün zeigte und die Türen aufschwangen. Dann war sie fort.